Patrick Berendonk: Diskursive Gerichtslandschaft. Die jüdische Minderheit vor landesherrlichen Obergerichten im 18. Jahrhundert (= Konflikte und Kultur - Historische Perspektiven; Bd. 36), Konstanz: UVK 2020, 263 S., ISBN 978-3-7398-3074-2, EUR 39,00
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Prozessschriftgut frühneuzeitlicher Justizkollegien wie des Reichskammergerichts, des Reichshofrats oder des Wismarer Tribunals ist der Forschung in den vergangenen Jahren durch großangelegte Erschließungsprojekte zu komfortablen Recherchebedingungen zugänglich gemacht worden. Die methodische Durchdringung des anspruchsvollen Materials hat hiermit allerdings keineswegs schrittgehalten, denn eine Aktenkunde der Justiz ist derzeit nicht einmal am Horizont erkennbar. Betroffen sind hiervon auch jene von einzelnen Beisitzern verfassten Relationen, die die Grundlage der kollegialen Beratung und Beschlussfassung bildeten. Dass die Forschung einer Auseinandersetzung mit dieser juristischen Textgattung bislang erfolgreich aus dem Weg gegangen ist, zeigt einmal mehr, wie schlecht es selbst mit Blick auf Zentralbereiche obrigkeitlich-staatlicher Herrschaftsausübung um die Historisierung von Entscheidungskulturen bestellt ist. [1]
Patrick Berendonks an der Universität Duisburg-Essen verfasste Dissertationsschrift, die darauf abzielt, Relationen einer diskurshistorischen Analyse zu unterziehen, kann deshalb als Pionierstudie auf einem zu Unrecht vernachlässigten Feld gelten. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage, inwiefern antijüdische Stereotype auf die juristische Wahrheitsproduktion im gemeinen Prozess, in dem Juden als cives romani Christen grundsätzlich rechtlich gleichgestellt waren, einwirkten. Die Quellengrundlage bilden Relationen zu Zwischen- und Endurteilen, die von den Hofräten des Kurfürstentums Köln und des Herzogtums Jülich-Berg sowie dem kaiserlichen Landgericht im Burggrafentum Nürnberg im Laufe des 18. Jahrhunderts in insgesamt 54 Zivilprozessen gefällt wurden.
Berendonk beschreitet neue Wege und gelangt zu interessanten Ergebnissen, gibt sich in methodischer Hinsicht allerdings auch manche Blöße. Einer Diskursanalyse sollte ein soziologisches Verständnis jener Praxis zugrunde liegen, auf die der zu untersuchende Diskurs Bezug nimmt. Von einer Organisationsforschung ist auf dem Gebiet der frühneuzeitlichen Rechtsgeschichte jedoch bislang kaum etwas zu sehen. Soweit kollegiale Entscheidungsprozesse betroffen sind, dominiert eine vorsoziologische Gleichsetzung von gelehrter Gerichtspraxis und Wissenschaftsgeschichte, die sich häufig in einer unkritischen Reproduktion zeitgenössischer juristischer Selbstbilder erschöpft.
Dass es Berendonk nicht gelingt, dieses Fahrwasser zu verlassen, illustriert seine Hoffnung, durch die Auswertung von Relationen einen "Blick hinter die Kulissen und damit hinter die Inszenierung" (43) gerichtlicher Wahrheitsfindung werfen zu können. Relationen waren und sind ein Bestandteil der Formalstruktur von Kollegialgerichten, spiegeln also deren Schauseite. Man hat es folglich mit Texten zu tun, die nicht allein der herstellenden, sondern auch der darstellenden Praxis dienen und über eine symbolisch-expressive Dimension verfügen. Eine Diskursanalyse sollte deshalb über textimmanente Zugänge hinausführen und an jene Praktiken anknüpfen, die zur Entstehung dieser Schriftzeugnisse geführt haben. Dies kann wiederum nur unter der Voraussetzung gelingen, dass neben der Formalstruktur auch all die informellen Hinterbühnen in den Blick geraten, auf denen nach soziologischer Erkenntnis ein wesentlicher Teil der organisationsinternen Kommunikationsbeziehungen beheimatet ist.
Informalität und Mikropolitik kommen bei Berendonk jedoch nicht einmal am Rande vor - kein Wort über Gruppenpsychologie, die gremieninterne Hierarchie von Vorsitzenden und Räten, der Formalstruktur zuwiderlaufende Kontakte zwischen Beisitzern und Parteien, die nur ansatzweise vollzogene Trennung von Person und Amt, Richterbestechung und vieles andere. In jener Arena, in der Berendonk den Agon zwischen Referentenvotum und kollegialer Rechtserkenntnis verortet, gibt es nichts von alledem, weil Praktiken des do ut des in Relationen (logischerweise) nicht auftauchen. Selbst mit Blick auf die Formalstruktur, insbesondere die Ausgestaltung der den Relationen unmittelbar zugrundeliegenden spruchkörperinternen Geschäftsverteilung, bleiben in der Einleitung viele Fragen offen.
Es passt ins Bild, dass man im Laufe der Studie keinen einzigen der beteiligten Richter namentlich kennenlernt. Anonyme, hoch qualifizierte Beisitzer (gewissermaßen Juristen als solche) führen wissenschaftliche Diskurse und ringen in zweckrational agierenden Behörden um die Wahrheit. Dabei sind die heftigen internen Auseinandersetzungen, die angesichts der fachlich und sozial sehr heterogenen Zusammensetzung frühneuzeitlicher Spruchkörper vielerorts herrschten, doch seit langem bekannt. [2] Der textimmanente Zugang Berendonks ist also, jedenfalls im Rahmen einer Diskursanalyse, denkbar ungeeignet und muss mit mathematischer Sicherheit zu dem kommoden Ergebnis führen, die frühneuzeitliche Relationstechnik bilde eine "Perle konkreter Wissenschaft", weshalb zeitgenössische Kritik an richterlicher Willkür unangemessen gewesen sei (239).
Die Vorzüge der Arbeit werden allerdings deutlich, wenn man sie weniger als Diskursanalyse, sondern vielmehr als Rekonstruktion juristischer Argumentationen liest. Penibel und mit einem unter Historikern keineswegs selbstverständlichen Interesse an Strategien richterlichen Begründens seziert Berendonk die Relationen, was insbesondere in jenen Fällen aufschlussreich ist, in denen Referent und Korreferent unterschiedliche Positionen vertraten. Dem Autor gelingt es sehr anschaulich, die logische Verknüpfung von Sachverhaltskonstruktion und Urteilsreproduktion anhand konkreter Beispiele offen zu legen. Gegenüber den häufig nicht über Aktenkenntnis verfügenden Spruchkörpern war es gerade der konstruktive Charakter der Sachverhaltsdarstellung, der den Referenten einen großen Einfluss auf die Urteilsfindung gewährte.
In vergleichender Perspektive besonders interessant sind schließlich die Ausführungen zum Umgang der drei Gerichte mit der praesumptio doli, die es einem Richter erlaubte, bei Juden auch ohne Beweis betrügerische Absichten vorauszusetzen. Während die Referenten in Jülich-Berg über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg die Meinung vertraten, Betrug und Wucher seien individuell zu beweisen, vollzog das Landgericht diesen Schritt erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts, während in den Beratungen des Kölner Hofrats noch um 1770 mit der praesumptio doli argumentiert wurde. Diesen Unterschied in der territorialgerichtlichen Rechtspraxis minutiös dargelegt zu haben, stellt ein wichtiges Ergebnis dar.
Fazit: Berendonk hat eine perspektivreiche Studie vorgelegt, in der substantielle Ergebnisse und methodische Schwächen allerdings eng beieinander liegen. Während erstere ein Ansporn sein sollten, die Auseinandersetzung mit Praktiken juristischen Entscheidens konsequent fortzusetzen, führen letztere vor Augen, dass die Justizforschung in aktenkundlicher wie in organisationssoziologischer Hinsicht noch viel Arbeit vor sich hat. Insofern bietet die Pionierstudie Anlass zu einer überfälligen Diskussion über die Frage, wie sich aus einer Position kritischer Distanz heraus mit jenen Prozessakten arbeiten lässt, die landauf landab die Archivmagazine füllen.
Anmerkungen:
[1] Hierzu Philip Hoffmann-Rehnitz / André Krischer / Matthias Pohlig: Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), 217-281.
[2] Erich Döhring: Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, 270-276.
Tobias Schenk