Nicolas Dufourcq (éd.): Retour sur la fin de la guerre froide et la réunification allemande. Témoignages pour l'Histoire, Paris: Odile Jacob 2020, 490 S., ISBN 978-2-7381-5457-6, EUR 29,90
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Der von dem französischen Unternehmer Nicolas Dufourcq herausgegebene Band ist ein gutes Beispiel für den von Chladenius geprägten und als Namen dieses Rezensionsjournals gewählten Begriff der "Sehepunkte". Der Herausgeber ist der Sohn des Abteilungsleiters im französischen Außenministerium, Ministerialdirektor Bertrand Dufourcq (1933-2019), der 1990 federführend an den Verhandlungen des Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, kurz Zwei-plus-Vier-Vertrag, teilnahm, bevor er als französischer Botschafter in Moskau und anschließend in Bonn diente.
Der Sammelband erschien zum 30. Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags vom 12. September 1990 zu Ehren des kürzlich verstorbenen Diplomaten und enthält neben Dokumenten zahlreiche Zeitzeugeninterviews aus unterschiedlichen Ländern. Allerdings ist die primäre Absicht des Herausgebers die Würdigung des Vaters, der in seiner Funktion zeitlebens nicht ins Rampenlicht rücken durfte. Bis auf wenige Ausnahmen wecken die zu Wort kommenden Diplomaten weniger als die politischen Entscheidungsträger das Interesse der Historiker. Dennoch hat dieser Band aufgrund der Gattung und der Vielfalt der Gesichtspunkte der Forschung und dem interessierten Publikum etwas zu bieten. Die Erinnerungen der politischen Berater und ihre Einordnung des historischen Geschehens ergänzen die Akten auf eine interessante Weise. Der Ausnahmecharakter der Situation in Deutschland und Europa 1989-1990 während einer in dieser Form sehr seltenen Verdichtungs- und Zuspitzungsphase der internationalen Politik verlieh ihrer Aufgabe eine große Bedeutung.
Einer längeren Einleitung mit der Zusammenfassung der Laufbahn von Bertrand Dufourcq und der Ereignisse in Europa zwischen Sommer 1989 und Herbst 1990 folgt - nach dem Abdruck von Erklärungen und dem Vertragstext - der Hauptteil des Bands mit 31 Zeitzeugeninterviews in englischer und französischer Sprache. Befragt wurden erstens politische Berater der Staats- und Regierungschefs. Im französischen Team um François Mitterrand sind es beispielsweise Jean-Louis Bianco, Jacques Attali, Hubert Védrine und Elisabeth Guigou. Auf der deutschen Seite sind unter anderen Joachim Bitterlich und Horst Teltschik zu nennen, auf der amerikanischen Robert Kimmitt und Philip Zelikow, auf der britischen Charles Powell und auf der sowjetischen Seite Andrei Gratchev. Zweitens kommen zahlreiche im Schatten handelnde und wenig bekannte Diplomaten zu Wort. Eine entscheidende Rolle in den Verhandlungen mit den inzwischen verstorbenen sowjetischen Gesprächspartnern spielten die vier westlichen politischen Direktoren Dieter Kastrup, John Weston, Raymond Seitz und eben Bertrand Dufourcq. Abgerundet wird dieser Hauptteil mit einem Aufsatz des französischen Historikers Frédéric Bozo. Mit seinen historischen Forschungen ist Bozo ein renommierter Experte des internationalen Wandels am Ende des Kalten Kriegs. Hier ordnet er die Ausführungen der Zeitzeugen in historische Perspektiven ein und dekonstruiert den Prozess der Legendenbildung, der in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung zu Fehleinschätzungen geführt hatte.
Die Entstehung, Verhandlungen und Ergebnisse der Zwei-plus-Vier-Konferenz im Rahmen des Wiedervereinigungsprozesses stehen zwar im Mittelpunkt des Bandes, aber auch bei der Behandlung anderer Aspekte werden auch wichtige Fragen diskutiert. Zum einen wird die Zukunft der Sicherheit in Europa mit der Entstehung des Pariser Vertrags über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE), mit der Charta von Paris über die Schaffung einer neuen friedlichen Ordnung in Europa nach der Einstellung der Ost-West-Konfrontation sowie der Frage einer möglichen Osterweiterung der NATO erörtert. Zum anderen wird die Einbettung des Prozesses in der EG behandelt. In den meisten Interviews kommt der Straßburger Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs von Anfang Dezember 1989 zur Sprache, auf dem zur Festlegung des Datums für eine Regierungskonferenz Druck auf Bundeskanzler Kohl ausgeübt wurde, mit dem Ziel, aufgrund seiner bisherigen Zustimmung zur geplanten Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) diese unverzüglich zu verwirklichen. Die Frage eines möglichen Tauschgeschäfts in Form der Zustimmung der Westmächte zur Wiederherstellung der deutschen Einheit gegen die Einführung des Euro im Rahmen der WWU beschäftigt die Forschung sowie die öffentliche Meinung seit drei Jahrzehnten.
Die Stärken des Buchs sind auch seine Schwächen und sie haben mit dem Genre zu tun. Zeitzeugenberichte halten sich nicht an die Regeln der Forschung und der wissenschaftlichen Fragestellung. Stattdessen haben sie in Darstellung und Argumentation eine eigene Logik, bei der Authentizität alles andere als Objektivität und Wahrheit ist. Dass die Zeitzeugen in der Vielfalt der Rückblicke und Perspektiven jeweils ihren eigenen Schwerpunkt setzen, ist aber ein Ertrag. Die Aussagen ergänzen sich. Die unterschiedliche Beleuchtung und Gewichtung einzelner Prozesse und Ereignisse - so etwa das Gewicht der USA, die Motivationen von Mitterrand und allgemeiner die jeweilige Interessenlage - fördern interessante Einblicke zutage. Der Abstand von 30 Jahren zu dem Geschehen ermöglicht auch die Revision eigener bisheriger Aussagen: so deutet beispielsweise George Bushs Berater Philip Zelikow, der sehr früh eine "Wahrheit" gesetzt hatte [1], heute vieles anders (118). Insgesamt bietet dieses Konvolut als kollektive Rekonstruktion der Vergangenheit ein interessantes Tableau der Ausgangspositionen, Analysenraster und Kompromisse von 1990.
Freilich lebt das Gedächtnis mit vielen Irrtümern. Fehlerhafte Datierung und Reihenfolge der Ereignisse verweisen oft auf die eigene Interpretation und Herstellung einer Logik (so Jean-Pierre Chevènement über Kohls Absichten im Frühjahr 1990 (108)), oder sie zeugen von der Wahrnehmung einer verdichteten Zeit - so wenn das Massaker auf dem Tiananmen-Platz und die Flucht von DDR-Bürgern in die ČSSR als zeitgleich dargestellt werden (111). Dass vieles interpretiert und gedichtet wird, hängt einerseits mit dem Standort zusammen, aus dem man spricht (Jacques Attali ist nicht Peter Hartmann und nicht Charles Powell), andererseits mit der Art, wie sich diese Geschichte in die eigene, von Vorurteilen geprägte Gesamtdeutung einfügt.
Diesem Konzert von 31 unterschiedlichen Stimmen lassen sich fünf Ergebnisse entnehmen: Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm vom 28. November 1989 löste eine viele größere Dramatik aus, als von deutscher Seite angenommen. Es besteht eine Einstimmigkeit über das beständige Bremsen Großbritanniens im Laufe des ganzen Prozesses. Die Vereinigten Staaten setzten mit der Nato-Zugehörigkeit des zu vereinigenden Deutschlands eine extrem starke Bedingung für den Prozess. Der Wettbewerb zwischen Bush und Gorbatschow war ein wichtiger Motor für die Haltung Washingtons (so Zoellick (110)). Die deutsch-französische Zusammenarbeit wird von allen Seiten gepriesen, insbesondere von den vermeintlich enttäuschten deutschen Akteuren. Einige Legenden werden dadurch widerlegt: Es habe zwischen dem grünen Licht zur Wiedervereinigung und der WWU zwar ein Linkage, aber kein Tauschgeschäft gegeben (118, 147). Und die Behauptung, Frankreich sei definitiv gegen die Wiedervereinigung gewesen und habe sich dieser zu widersetzen versucht, wird von den engen Mitarbeitern von Kohl Peter Hartmann und Joachim Bitterlich bestritten (94, 135). Allerdings bleibt Horst Teltschik etwas kritischer (171).
Diese Sammlung von Zeitzeugenberichten über das Epochenjahr 1990 ist für diejenigen von Interesse, die sich mit dem Ende des Kalten Kriegs und der Entstehung der Berliner Republik auseinandersetzen. Mit der Besonderheit der Gattung und der gebotenen Vorsicht bei der Auswertung ist sie für die Forschung eine Quelle und eine wertvolle Ergänzung der Akten der Ministerien [2].
Anmerkungen:
[1] Vgl. Philip Zelikow / Condoleezza Rice, Sternstunde der Diplomatie. Die deutsche Einheit und das Ende der Spaltung Europas, Berlin 1997.
[2] So in Deutschland die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) 1990, hg. im Auftrag des Auswärtigen Amts vom Institut für Zeitgeschichte, München 2021.
Hélène Miard-Delacroix