Kiran Klaus Patel / Hans Christian Röhl: Transformation durch Recht. Geschichte und Jurisprudenz Europäischer Integration 1985-1992. Mit einem Kommentar von Andreas Wirsching, Tübingen: Mohr Siebeck 2020, XIV + 345 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-16-159020-7, EUR 29,00
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"Gemeinsam ran an den Elefanten!", fordern der Münchner Historiker Kiran Klaus Patel und der Konstanzer Rechtswissenschaftler Hans Christian Röhl in ihrer Studie zur Rechtsgeschichte der Europäischen Gemeinschaft. Sie beziehen sich auf das Gleichnis der Blinden, die einen Elefanten beschreiben und, unterschiedliche Teile ertastend, verschiedenste Interpretationen des Riesen liefern. Ähnlich, argumentieren die Verfasser, blicken ihre Wissenschaftsdisziplinen auf die europäische Integration. Obwohl Recht eine tragende Rolle im Einigungsprozess spiele, gleiche die Zusammenarbeit von Zeitgeschichte und Rechtswissenschaft trotz einzelner innovativer Kooperationen einem "Dialog der Blinden" (38). Das vorliegende Buch versteht sich als Einladung zum Gespräch und als "Beitrag zur Selbstklärung" (5).
Das Recht, so die Ausgangsthese, war wesentlicher Treiber der europäischen Integration von 1985 bis 1992. In diesem Zeitraum verorten die Autoren eine tiefgreifende Transformation, die die heutige Europäische Union entscheidend prägte. Sie untersuchen exemplarisch das Projekt zur Schaffung eines europäischen Binnenmarkes ohne innere Grenzen, das 1985 durch die Europäische Kommission unter ihrem neu angetretenen, hocheffizienten Präsidenten Jacques Delors angestoßen und im Vertragswerk der Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) 1986/87 verankert wurde.
Die anschließende supranationale Rechtsetzung bewirkte demnach einen qualitativen Wandel in der Natur des europäischen Rechts. Wo zuvor die Rechtsanwendung prägend gewesen sei, habe nun die europäische Gesetzgebung - durch Mitgliedstaaten im Rat im Zusammenspiel mit Kommission und Europäischem Parlament - mit dem Instrument des Sekundärrechts als Integrationsmotor fungiert. Dem folgte, so die Argumentation, eine zunehmende Verflechtung von mitgliedsstaatlicher und gemeinschaftlicher Ebene. Damit sei eine Verbundstruktur entstanden, der eine dichotomische Gegenüberstellung von Gemeinschaft einerseits und Mitgliedsstaaten andererseits nicht mehr gerecht werde. Diese schrittweise "unsichtbare Transformation" (219) jenseits aufsehenerregender Verträge sei jedoch von Zeitgenossen und Wissenschaft weitgehend unerkannt geblieben.
Die vorliegende Analyse setzt einen deutlichen Akzent in der aktuellen Forschungsdebatte um die Bewertung der Zeit vor dem Vertrag von Maastricht 1992, der die Europäische Union begründete. Sie grenzt sich explizit von früheren Interpretationen ab, die den Betrachtungszeitraum lediglich als "Jahre des Ausbaus" [1] deuten. Das Binnenmarktprojekt rückt so aus dem übergroßen Schatten der bisher dominierenden historischen Fluchtpunkte Maastrichter Vertrag und Währungsunion. Eine umfassende historische Aufarbeitung dieser Jahre, betonen die Verfasser, steht wegen der 30-Jahres-Freigabefrist vieler staatlicher Archive weiterhin aus.
Die Argumentation besteht aus fünf Teilen, passend zur Dialogform teils gemeinsam, teils von einem Autor verfasst. Am Anfang steht eine Verständigung über historische und juristische Forschungstraditionen, um eine gemeinsame Sprache zu finden. Das bietet Möglichkeiten zur methodischen Reflexion: Die Zeitgeschichte drohe wegen der Betonung von Kontinuitäten die Besonderheit der historischen Situation zwischen 1985 und 1992 aus dem Blick zu verlieren, während in der Rechtswissenschaft gerade der hohe Praxisbezug diesen Effekt habe.
Im zweiten Teil zeichnet Röhl die gegenseitige Durchdringung von Mitgliedsstaats- und Gemeinschaftsebene nach. Die gemeinschaftlichen Rechtsetzungskompetenzen seien zwar schon vor der Einheitlichen Europäischen Akte angelegt gewesen, aber nicht voll ausgeschöpft worden. Das Vertragswerk habe dann besonders durch die Einführung von Mehrheitsentscheidungen diese Rechtsetzung aktiviert. Im Laufe der Zeit habe sich die Übertragung von Zuständigkeiten über den eigentlich angedachten Binnenmarkt hinaus auf andere Bereiche erstreckt und einen weitreichenden Souveränitätstransfer bewirkt. Dies sei unauffällig und technisch geschehen und nicht in Folge eines spektakulären "constitutional moment" (63).
Im dritten Teil untersucht Patel das Fallbeispiel Bundesrepublik. Er stellt fest, dass ab 1985 überraschenderweise keine umfassenden institutionellen Änderungen stattfanden und selbst im Regierungs- und Verwaltungsapparat ein Bewusstsein für die europapolitischen Realitäten fehlte. Zunächst seien bestehende Institutionen, Abläufe und vorhandenes Wissen genutzt worden, nur in einer anderen Qualität. Er seziert zudem das spannungsreiche Verhältnis zwischen Bund und Ländern, die die Transformation der Gemeinschaft klarer sahen und mit einer "Nebenaußenpolitik" (135) scharf reagierten.
Im vierten Teil untersucht Röhl mit der Gemeinsamen Marktorganisation für Bananen (GMO) 1993 ein nur auf den ersten Blick abseitiges Beispiel. Es zeigt, wie die supranationale Struktur auch die Außenbeziehungen prägte, obwohl die Außenpolitik formell in die Hoheit der Mitgliedstaaten fiel. Denn der GMO folgten eine Reihe rechtlicher Auseinandersetzungen mit Bananen exportierenden Ländern, die die externen Handelbeziehungen mitbestimmten.
Das gemeinsame Schlusskapitel legt dar, wie sich die EG-Mitglieder durch die Transformation zu postklassischen Staaten wandelten. Die Umbaudynamik sei nicht nur aus der Binnenlogik heraus entstanden, sondern habe durch äußere Prozesse wie Globalisierung und das Ende des Kalten Krieges Schubkraft erhalten. Anschließend greift Andreas Wirsching in einem Kommentar die Befunde auf und reflektiert sie vor dem Hintergrund aktueller Europadebatten. Unter den Aspekten Souveränitätsübertragung, Demokratiedefizit und Reversibilität des Einigungsprozesses zeigt er, wie die Befunde in breiteren Debatten fruchtbar gemacht werden können.
Hans Christian Röhl und Kiran Klaus Patel legen eine überzeugende Analyse vor, die neben veröffentlichten Quellen auf Archivalien aus vier Ländern fußt. Unter ständiger Rückbindung an den Forschungsstand argumentieren sie klar und strukturiert. Die Darstellung ist trotz der teils technischen Thematik gut lesbar, bindet immer wieder aktuelle Debatten um Themen wie Globalisierung oder Populismus ein und bietet so zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen. Ein Anhang mit Originalquellen erlaubt ein schnelles Nachschlagen. Erkenntnisgrenzen, etwa durch Freigabefristen, werden klar benannt, ebenso wie noch offene Bereiche: Das Verhältnis der Bevölkerung zur Gemeinschaft, Währungspolitik, nichtstaatliche Akteure und Erweiterung. Die Erörterung der vorgestellten Thesen unter Einbeziehung dieser Perspektiven lässt spannende Debatten und Kontroversen erwarten.
Die leichte Zugänglichkeit kommt dem erklärten Ziel entgegen, auch einem weniger thematisch versierten Lesepublikum die "Scheu [...] zu nehmen" (VII). Dafür wäre ein Verzeichnis der zahlreich verwendeten rechtlichen Abkürzungen hilfreich gewesen, ein Schlagwortverzeichnis hätte der leichteren inhaltlichen Erschließung gedient.
Das Buch leistet einen wertvollen Beitrag für die Integrations- und Rechtsgeschichte sowie die historisch interessierte Rechtswissenschaft. Naturgemäß kann eine einzelne Analyse nicht den gesamten Elefanten, zumal einen so großen wie die Europäische Union, in allen Facetten ertasten. Doch mit ihrer scharfen Analyse liefern die Autoren ein überzeugendes Plädoyer, die Zusammenarbeit zwischen Zeitgeschichte und Jurisprudenz fortzusetzen und zu intensivieren. Die jüngsten Ereignisse um das Vertragsverletzungsverfahren der Europäischen Kommission gegen Deutschland, das mit explizitem Verweis auf den Erhalt der Rechtsgemeinschaft geführt wird, führen die Aktualität der Frage nach der historischen Rolle des Rechts eindringlich vor Augen.
Anmerkung:
[1] Wilfried Loth: Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte, 2. erw. Auflage, Frankfurt/M. 2020, 259.
Juliane Clegg