Christof Kneer: Die Hansi Flick Story. Geschichte eines Fußballwunders, München: C.H.Beck 2021, 222 S., ISBN 978-3-406-76937-5, EUR 16,95
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Fußball ist bei den großen Verlagen angekommen. Selbst C.H.Beck, eine der renommiertesten wissenschaftlichen Buchmachereien, hat sich nach einigem Zögern für ihn geöffnet. Philipp Lahm führt dort in die "Welt des Fußballs" ein [1], und Christof Kneer erzählt die "Geschichte eines Fußballwunders". Endlich, hoffte der Rezensent, wird der Fußball so behandelt, wie er es als Faktor der Unterhaltungsindustrie, als globale wirtschaftliche Ressource und als gesellschaftliches Bindemittel längst verdient habe.
Die Erwartungen sind also hochgesteckt. Werden sie auch erfüllt? Die Voraussetzungen sind besonders bei dem Buch über das Wunder nicht schlecht. Im Gegenteil: Das Thema ist spannend und noch immer aktuell. Es dreht sich um den frischgebackenen Bundestrainer Hansi Flick, der in höchster Not vom Assistenten zum Cheftrainer des FC Bayern München avancierte, einem desorientierten Team neues Leben einhauchte und dann binnen zehn Monaten alles gewann, was es für eine Mannschaft national und international zu gewinnen gab. Ein - laut Klappentext - "modernes Märchen", eine "Cinderella-Story", ein "Drehbuch für einen Hollywood-Film" - und genau der richtige Stoff für eine der Edelfedern der "Süddeutschen Zeitung". Christof Kneer verfolgt den FC Bayern seit Jahren aus nächster Nähe und steht auch mit dem Protagonisten auf vertrautem Fuße. Der Autor erzählt diese im deutschen Fußball einmalige Erfolgsgeschichte am Beispiel der 36 Partien, in denen Flick von seinem Debüt als Cheftrainer am 6. November 2019 bis zum Triumph im Finale der Champions League am 23. August 2020 die Mannschaft des FC Bayern München coachte. Fußballfans und -sympathisanten finden in Kneers Buch wenig Neues. Sie werden aber ein Déjà-vu-Erlebnis nach dem anderen haben und dürften sich dabei bestens unterhalten fühlen: die Stabilisierung der Mannschaft durch Achsen-Bildung, die taktische Neuausrichtung zum offensiven Dauerpressing, die Wiederauferstehung von Thomas Müller und die vielen Tore und Paraden - wer erinnert sich nicht gern daran?
Wissenschaftlichen Maßstäben genügt das Buch freilich nicht. Kneer stützt sich auf den Augenschein, seine eigenen Artikel (oder die seiner Kollegen) in der "Süddeutschen Zeitung" und auf Interviews mit einigen Vertrauten und Freunden von Flick, der ebenfalls für Befragungen zur Verfügung stand. Die schmale Quellenbasis ist aber nur die eine Seite des Problems, hinzu kommt die übergroße Nähe zum Protagonisten des Buchs und zum Verein, dem Flick so große Erfolge bescherte, dem er nach einer nicht ganz so glanzvollen zweiten Saison aber doch in einem von beiden Seiten mühsam kaschierten Streit den Rücken kehrte. Kneer mag Hansi Flick, er leibt und lebt als Fußball-Chef der SZ im Kosmos der Säbener Straße und ist somit Teil des Systems Fußball, den er - namentlich in Gestalt von Titanen wie Kimmich und Müller - liebt und auf den er nichts kommen lässt.
Das Buch ist deshalb so gut wie kritikfrei. Es lässt jegliche Distanz vermissen und stellt keine weiterführenden Fragen, die über das Geschehen auf dem Rasen hinausweisen könnten. Wie verortete sich der Trainer in den komplizierten, von persönlichen Rivalitäten und Animositäten geprägten Governance-Strukturen des FC Bayern? Wie kam der angeblich so unscheinbare und brave Flick mit den Alphatieren Hoeneß und Rummenigge, mit dem Image des Vereins und mit den global agierenden Partnern der Bayern - Stichwort Katar - zurecht? Wie stand es um seine Bezahlung und seine Zukunftsperspektiven? Auf wen konnte sich der Trainer in seinem unmittelbaren Umfeld stützen - auf welche Berater und Assistenten und auf welche Experten namentlich im medizinischen Bereich, der in Zeiten von Corona immer größere Bedeutung gewann? Lediglich Holger Broich, der "Leiter Wissenschaft und Fitness", der als Erfinder des Cybertrainings in die Geschichte des FC Bayern München eingehen dürfte, gewinnt so etwas wie Kontur, während alle anderen im Dunkeln bleiben.
Kneer verzichtet auf solche und ähnliche Fragen. Er hält den Ball ganz nahe am Fuß und hebt kein einziges Mal den Kopf. Fußballaficionados werden sich an diesen Defiziten ebenso wenig stören wie an der sprachlichen Gestaltung des Buches. Der Autor ist ein begnadeter Schreiber und ein Garant dafür, dass die mit dem oft dürftigen Feuilleton und dem einseitigen Politikteil der "Süddeutschen Zeitung" unzufriedenen Leser ihrer Zeitung letztlich doch die Treue halten. Seine von beispielloser Fantasie getriebenen Berichte, sein Wortwitz und seine Sprachmacht sind meist auch dann noch das reine Vergnügen, wenn die große Kunst des Autors sich fast sinnfrei in sich selbst erschöpft. Jeder Artikel ist ein journalistisches Kabinettstück von eigenem Wert, das aber doch anderen Gesetzen gehorcht als ein Buch. Kneers Sprachfantasie, seine fachkundige Verspieltheit und das Tempo seiner Artikel verlieren über eine längere Distanz viel von ihrer Suggestion. Am Ende bleibt auch der wohlwollende Leser des Buches überhitzt, übermüdet und fast erschlagen auf der Wallstatt des Fußballs zurück und ruft nach Auswechslung.
Anmerkung:
[1] Philipp Lahm: Das Spiel. Die Welt des Fußballs, München 2021.
Hans Woller