Rezension über:

Nicolangelo D'Acunto / Elisabetta Filippini (a cura di): Libertas. Secoli X-XIII (= Le Settimane internazionali della Mendola. Nuova Serie; 6), Milano: Vita e Pensiero 2019, 461 S., ISBN 978-88-343-3936-7, EUR 35,00
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Rezension von:
Francesco Massetti
Historische Fachgruppe, Bergische Universität Wuppertal
Redaktionelle Betreuung:
Étienne Doublier
Empfohlene Zitierweise:
Francesco Massetti: Rezension von: Nicolangelo D'Acunto / Elisabetta Filippini (a cura di): Libertas. Secoli X-XIII, Milano: Vita e Pensiero 2019, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/34096.html


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Nicolangelo D'Acunto / Elisabetta Filippini (a cura di): Libertas

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Der sechste Sammelband der neuen Reihe der Settimane internazionali della Mendola widmet sich dem Libertas-Begriff im Hochmittelalter (10.-13. Jahrhundert), wobei der Fokus sowohl auf theoretischen Ausführungen als auch auf politischen Praktiken und sozioökonomischen Strukturen liegt. Der Band gliedert sich in zwei Teile: einen mit den Vorträgen (relazioni) der internationalen Tagung (Brescia, 14-16 September 2017), einen mit kürzeren Beiträgen (comunicazioni) von Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern.

Einen einleitenden Überblick zum Thema bietet der Aufsatz von Jean-Claude Schmitt über die "Eroberung der Freiheit", der den wesentlichen Unterschied zwischen der modernen Auffassung einer absoluten und universellen Freiheit und den mittelalterlichen Freiheiten verdeutlicht, die sich als "unvollständig und partikularistisch" (26) erweisen. Darauffolgend betrachtet der Vf. drei Hauptbereiche der mittelalterlichen libertas: die christliche Reflexion de libero arbitrio, das rechtliche Verhältnis zwischen Freien und Unfreien sowie die Freiheit als politischen Wert. Auf die Beziehung zwischen Freiheit und aristokratischem ethos geht Alessandro Barbero ein, der sich mit dem historiographischen Paradoxon einer "freien Unfreiheit" [1] akribisch auseinandersetzt. Allerdings lassen sich nicht alle betrachteten Beispiele - insbesondere der Fall der florentinischen magnati - durch die abschließende Interpretation erklären, die wahre Freiheit bestehe darin, sich der legitimen Gewalt zu unterwerfen.

Die drei folgenden relazioni thematisieren die libertas im ekklesiologischen und kirchenpolitischen Bereich. Florian Mazel untersucht die Entwicklung des Verhältnisses zwischen libertas und kirchlichem Raum, die er überzeugend im Sinne eines Übergangs von einer defensiven Polarisierung um die loca sancta (9.-10. Jh.) zu einer offensiven Territorialisierung der kirchlichen Herrschaft (11.-13. Jh.) deutet. Dem scheinbaren Oxymoron im Verhältnis zwischen Freiheit und Hierarchie ist der Beitrag von Nicolangelo D'Acunto gewidmet. Wie auch Gerd Tellenbach [2] sieht der Vf. im hierarchischem Prinzip ein wesentliches Fundament der mittelalterlichen Weltordnung, welches sich im monastischen Gehorsam besonders deutlich widerspiegelte. Auch in einer so hierarchisch strukturierten Gesellschaft wurde aber eine gewisse Freiheit durch das "unerschöpfliche Experimentieren immer neuer Gleichgewichte" (66) de facto ermöglicht. Auf die Auswirkungen des paulinischen Spruchs "Wo aber der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit" (2 Kor. 3, 17) geht der folgende Beitrag von Gert Melville ein. Unter Berufung auf die libertas Spiritus wurden religiöse Erfahrungen legitimiert, welche in unterschiedlichem Grad die Überwindung der irdischen Hierarchie beanspruchten.

Leitmotiv der drei folgenden Beiträge ist das Verhältnis zwischen libertas und regnum. Aus der Untersuchung von ottonischen und frühsalischen Herrscherurkunden (936-1039) für nordalpine Klöster erschließt Wolfgang Huschner, dass die libertas sich auf die besonderen Rechte bezog, welche die Empfänger aufgrund ihrer privilegierten Beziehung zu den Herrschern besaßen. Dazu gehörten vor allem das mundiburdium, die Immunität, die freie Wahl des Oberhauptes und die Exemtion von der bischöflichen Jurisdiktion. Eine wesentliche Kontinuität der ottonischen und salischen Tradition sieht Guido Cariboni in der Verwendung des Libertas-Begriffs in den Diplomen Barbarossas für kirchliche Einrichtungen. Eine bedeutende Neuentwicklung stellte dagegen die Verleihung der libertas an norditalienische Städte dar, die Barbarossa durch die Gewährung seiner tuitio sowie weiterer Sonderrechte für die kaiserliche Sache gewinnen konnte. Die Rolle der libertas Ecclesiae in den Beziehungen zwischen den kirchlichen Institutionen und den normannischen Herrschern im regnum Siciliae behandelt Francesco Panarelli, der sich hierbei insbesondere auf die Darstellung des angespannten Verhältnisses zwischen Roger II. und dem Papsttum in der Historia pontificalis des Johannes von Salisbury konzentriert.

Wieder nach Oberitalien führt der Aufsatz von Christoph Dartmann, der die Bedeutung der libertas in der kommunalen Geschichtsschreibung betrachtet. War die Freiheit zwar kein zentraler Wert des kommunalen Selbstverständnisses, gewann sie jedoch eine größere rhetorische Relevanz, als die städtische Autonomie durch externe Angriffe bedroht wurde. Gegenstand des folgenden Beitrags von Paul Bertrand ist die Konstruktion von "schriftlichen Autoritäten" im dokumentarischen Bereich zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert, mit besonderem Blick auf den Aufstieg der "micropowers". Während das schriftliche Wort ursprünglich durch anerkannte Institutionen seine Autorität erhielt, verhalfen autoritative Dokumente in einer späteren Phase neuen Institutionen dazu, Autorität und Freiheit zu gewinnen. Sehr aufschlussreich ist die rechtsgeschichtliche Betrachtung von Mario Conetti, der die Auffassung der libertas bei den Rechtsgelehrten von Bologna zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert erläutert. Dabei wird nicht nur der relevante Einfluss von logischen und theologischen Kategorien, sondern auch die politischen Vorstellungen herausgearbeitet, welche die rechtswissenschaftlichen Diskurse prägten. Schließlich befasst sich der Beitrag von Carla Bino mit zisterziensischen und franziskanischen Darstellungen der Passion, in denen die freie Beteiligung des Gläubigen am Leiden Christi sich respektive durch den planctus Mariae bzw. die imatio des vir dolorum verwirklicht.

Die in den relazioni betrachteten Aspekte der libertas werden in den achtzehn comunicazioni noch vertieft, indem sie in thematisch bzw. chronologisch spezifischere Kontexte eingebettet werden. Eine Ausnahme zu dem im Band betrachteten Zeitraum bildet der Beitrag von Marco Cristini, der die älteren Deutungen des Libertas-Begriffes in progotischen und prokaiserlichen Quellen aus dem 6. Jahrhundert erheblich revidiert. Während sich Stefano Manganaro und Gianmarco Cossandi auf die Vorrechte von herrschernahen Klöstern fokussieren, betrachten Elena Vanelli und Enrico Veneziani das Verhältnis zwischen der libertas monastica und der päpstlichen Gewalt. Die libertas im Kontext der Kirchenreform thematisieren die Beiträge von Caterina Ciccopiedi, Antonio Manco, Maria Vezzoni und Matteo Meanti, während Stefano Belardinello, Daniele Sini, Francesco Poggi und Daniele Bortoluzzi die Auswirkungen von lokalen und regionalen politischen Dynamiken auf die Auffassung der libertas am Beispiel von italienischen Städten zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert erläutern. Weitere betrachtete Themen sind die Rolle der libertas beim monastischen transitus (Micol Long), die Freiheitsausübung in süditalienischen Felsenklöstern (Antonio Macchione), die libertas ecclesiastica im Königreich Sizilien im 13. Jahrhundert (Antonio Antonetti), die libertas Italiae in den Papstviten Innozenz' III. und Gregors IX. (Alberto Spataro) und schließlich die libertas in Dantes Gedankenwelt (Federica Mantelli).

Insgesamt bietet der Band aufschlussreiche Einblicke in die plurale und zugleich partikularistische Dimension der mittelalterlichen libertates. Als besonders deutlich erweist sich zudem die unauflösliche Verbindung zwischen den besonderen Freiheiten und den Autoritäten, die für deren Verleihung und Schutz zuständig waren. Obwohl sich die Vielfältigkeit der libertas kaum auf eine allumfassende Synthese zuzuführen lässt, hätte dennoch eine Schlussbetrachtung dem Leser dabei geholfen, einen Überblick über die bedeutendsten Kontinuitäten und Umbrüche zu gewinnen. Diese Funktion erfüllen auch nicht die osservazioni e notazioni von Giancarlo Andenna, die eine inhaltliche Zusammenfassung der einzelnen relazioni bilden. Zu den Schwächen gehört abschließend die nicht immer deutliche thematische Einordnung der Beiträge. Trotz dieser kritischen Punkte wird der Band angesichts der Vielfalt von Fragestellungen sowie der sorgfältigen Quellenanalyse, die jeden Beitrag kennzeichnet, zweifelsohne einen wichtigen Bezugspunkt für die weitere Erforschung der mittelalterlichen libertas darstellen, besonders im Hinblick auf die kirchlichen Einrichtungen in Italien und im nordalpinen Reich sowie auf die politischen Verhältnisse in den italienischen Kommunen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. K. Bosl: Frühformen der Gesellschaft im mittelalterlichen Europa. Ausgewählte Beiträge zu einer Strukturanalyse der mittelalterlichen Welt, München / Wien 1964.

[2] G. Tellebach: Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites (Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte; 7), Stuttgart 1936.

Francesco Massetti