Rezension über:

Margaret Harvey / Linda Rollason (eds.): The Rites of Durham (= The Publications of the Surtees Society; Vol. 226), Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020, XVIII + 808 S., 41 s/w-Abb., ISBN 978-0-85444-082-5, GBP 75,00
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Rezension von:
Ralf Lützelschwab
Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fischer
Empfohlene Zitierweise:
Ralf Lützelschwab: Rezension von: Margaret Harvey / Linda Rollason (eds.): The Rites of Durham, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/35339.html


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Margaret Harvey / Linda Rollason (eds.): The Rites of Durham

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Die 1834 zu Ehren von Robert Surtees of Mainsforth († 1834) gegründete "Surtees-Society" gehört zu denjenigen kleinen gelehrten Gesellschaften in England, ohne die die Edition und Publikation vieler wichtiger Quellentexte zur (mittelalterlichen) Geschichte nicht möglich wäre. Sie widmet sich der Herausgabe von Werken, die in Beziehung zum County Durham and Northumberland stehen. Es mag erstaunen, dass eine der zentralen Quellen zur Geschichte Durhams und seiner Kloster- bzw. Kathedralkirche, die "Rites of Durham", nun bereits zum dritten Mal unter der Ägide dieser rührigen Vereinigung herausgegeben wird. [1] Dies geschieht freilich nicht ohne Grund, konnte doch Anthony Ian Doyle († 2018) in den vergangenen Jahren aufgrund paläographischer und prosopographischer Untersuchungen viele neue Details zu Entstehung, Verbreitung und Rezeption der Rites präsentieren und sie - zum ersten Mal überhaupt - einem Autor zuweisen: William Claxton of Wynyard († 1597). Außerdem wurden weitere Handschriften entdeckt, die bei der Erstellung eines neuen kritischen Editionstextes unbedingt heranzuziehen waren.

Insgesamt sind nun 13 Handschriften der Rites bekannt (zu einer Beschreibung der einzelnen Codices, vgl. 4-23), wobei der sog. "Hogg Roll" (Hg) (Durham Cathedral Library, MS C.III.23), entstanden zwischen 1593 und 1597, als "working authorial copy of the Rites" (26) eine besondere Rolle zukommt. Die Rites liefern ungewöhnlich detaillierte Angaben topographischer, historischer und liturgisch-zeremonieller Natur zu den Kirchen- und Klaustralgebäuden und beschreiben darüber hinaus so manche Probleme, die nach der von Heinrich VIII. verfügten "Dissolution of the monasteries" auftraten, als 1539 aus der Benediktinerklosterkirche eine Kathedralkirche und aus den monastischen Gebäuden Wohnstätten für die Kanoniker und ihre Bediensteten wurden. Nicht nur die Schreine der Hll. Cuthbert und Beda, sondern auch einige Klostergebäude und die Bleifenster des Kreuzgangs wurden damals zerstört. Die Rites weisen "a strong vein of both religious conservatism and of quite strongly worded criticism" (3) auf. Besonders zwei elisabethanische Dekane, Robert Horne und William Wittingham werden dabei zur Zielscheibe erbitterter Kritik, waren sie es doch, die tiefgreifende liturgische Reformen und (damit zusammenhängend) die Zerstörung einiger architektonischer Ensembles in Kirche und ehemaligem Klosterbezirk verfügten. Insbesondere die Vernichtung des Banners des Hl. Cuthbert auf Drängen der (französischen) Ehefrau Wittinghams brannte sich nachhaltig ins kollektive Gedächtnis der Gläubigen in Durham County ein. Die entsprechende Passage in den Rites lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: die Gattin des Dekans "did most iniuriously burne and consume the same [banner] in her fyre in the notable contempt and disgrase of all auncyent and godly reliques" (§8.4.2, 157).

Wie von den Editorinnen überzeugend dargelegt, wurde der Text um 1593 von einer Person verfasst, die über umfangreiche Kenntnisse der Geschichte der Kathedrale von Durham verfügte, und nicht nur Zugang zu relevanten handschriftlich überlieferten bzw. gedruckt vorliegenden Quellen, sondern auch zu ehemaligen Mitgliedern der aufgelösten monastischen Kommunität hatte, deren mündliche Erfahrungsberichte mitverarbeitet wurden. William Claxton nennt sich zwar an keiner Stelle als Verfasser, erfüllt jedoch das "Anforderungsprofil" in einem so hohen Maße, dass eine Verfasserschaft mehr als wahrscheinlich ist (vgl. 23-27).

Die Rites sind keine Arbeit aus einem Guss. Nicht alle Teile des Werks sind gleichermaßen gut ausgearbeitet. Dies mag auch mit der Verarbeitung unterschiedlicher Quellengattungen zusammenhängen, von Handschriften mit hagiographischem Material zum Hausheiligen Cuthbert oder mittelalterlichen Chroniken zur Geschichte Durhams über frühe Drucke zur (Kirchen-)Geschichte Nordenglands oder eine in der Kathedrale von Durham hängende tabula, auf der die in der Kirche zu erlangenden Ablässe verzeichnet waren, bis hin zu mündlichen Quellen. Gerade zu letzteren bietet die Einleitung ausgesprochen aufschlussreiche Passagen. Zum Zeitpunkt der Auflösung der Benediktinerabtei 1539 war Claxton zwar erst acht Jahre alt, einige der Mönche (aus deren Reihen die ersten Kathedralkanoniker stammten) bewiesen aber eine erstaunliche Langlebigkeit, so etwa George Clyffe, der 1530 in die Klostergemeinschaft eintrat und sich 1596 noch immer bester Gesundheit erfreute.

Für die Herstellung des neuen Editionstextes ist die Feststellung entscheidend, dass die Hogg-Roll (Hg) als "authorial draft" (53) und älteste überlieferte Handschrift des Textes zwar eine Sonderstellung beanspruchen kann, sie jedoch keiner der erhaltenen Abschriften der Rites zugrunde lag. Diese Abschriften belegen aber die Existenz zweier zeitlich vorgelagerter Fassungen, einer Lang- und einer Kurztextversion mit jeweils unterschiedlichen Varianten. So wird die editorische Entscheidung verständlich, der neuen Edition einen Vertreter der Langtextversion zugrunde zu legen (Durham, Durham University Library, Church Commission Bishopric Estates MS B/175/57144). Unverzichtbar für das Verständnis der Rites sind die ausführlichen Bemerkungen im Kommentar (369-585). Ergänzende Informationen liefern einige Anhänge, darunter Editionen detaillierter Beschreibungen des Glasfensterbestands der Kloster- und späteren Kathedralkirche und der in ihr verwendeten Glocken und Orgeln (jeweils mit Kommentar).

Ausgesprochen lesenswert sind die Bemerkungen zur historischen Verortung der Rites im Durham des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Claxton als Autor hatte zwar kein gesteigertes Interesse an liturgischen Details oder am ausdifferenzierten Zeremoniell des monastischen Totengedenkens im späten Mittelalter, grenzte sich mit seiner Schrift aber klar von derjenigen Spielart des Protestantismus ab, die in Durham in der Regierungszeit Elizabeths I. durchgesetzt werden sollte. Claxton beschreibt das ehemals monastische Leben in Durham mit offensichtlicher Sympathie, Mönche werden bei ihm nicht zur Zielscheibe billiger Polemik, im Gegenteil: er preist ihren Studieneifer, dem täglich Raum im Kreuzgang "all the after noune vnto evinsong" (§25.1, 300) gegeben wurde und betont ausdrücklich, dass damals jeder unautorisierte Zugang zum Dormitorium streng unterbunden wurde. Damit wendet er sich implizit gegen die vom Kathedraldekan immer wieder vorgebrachten Anschuldigungen, fast jeder Mönch hätte in den "alten Zeiten" eine Geliebte in der Stadt unterhalten. Mit seinen Vorstellungen war Claxton nicht allein. Viele Seiten widmen die Herausgeberinnen der Beschreibung eines sozialen Milieus innerhalb der Stadt, in dem man im Ikonoklasmus der jüngsten Vergangenheit einen Angriff auf die eigenen religiös-kulturellen Wurzeln erblickte, sich deshalb zwar nicht in eine idealisierte "papistische" Vergangenheit zurückträumte, gleichwohl aber eine Art "goldenen Mittelweg" propagierte, in dem religiöser Rigorismus fehl am Platze war. Rezipiert wurde das Werk denn auch wenig überraschend vor allem in denjenigen "hochkirchlichen" Kreisen, die traditionellere Formen des Gottesdienstes favorisierten.

Die Rites sind ohne jeden Zweifel "a polemical text written in response to the impact on Durham Cathedral of radical Protestantism" (69). Sie sind in ihrer Stoßrichtung stark konservativ und zeugen von einer tiefen Missbilligung der mit der englischen Reformation einhergehenden Veränderungen. Sie dokumentieren eine Zeit des Übergangs, in der die Erinnerung an vorreformatorische Zeiten noch lebendig war, ohne dass diese Zeiten jedoch über Gebühr glorifiziert worden wären. Es ist jedoch genau diese Vergangenheit, die als Hintergrundfolie für eine Gegenwart dient, deren weltanschauliche (und nicht zuletzt liturgische) Strenge von vielen wenig geschätzt wurde.

Kirchengeschichtler, Kunsthistoriker, Musikwissenschaftler und Sozialhistoriker werden gleichermaßen von einem Text profitieren, der nun endlich in einer philologisch über jeden Zweifel erhabenen, zuverlässig kommentierten Fassung vorliegt.


Anmerkung:

[1] Rites of Durham (Surtees Society, 15), ed. by J. Raine, London 1842; Rites of Durham (Surtees Society; 107), ed. by J. T. Fowler, Durham / London 1903; vgl. zur Entstehungsgeschichte dieser Editionen die Bemerkungen auf den Seiten 80-82.

Ralf Lützelschwab