Rezension über:

Stephanie E. Pitts / Sarah M. Price (eds.): Understanding Audience Engagement in the Contemporary Arts (= Routledge Research in the Creative and Cultural Industries), London / New York: Routledge 2020, 248 S., ebook, ISBN 978-0-429-34245-5, GBP 29,59
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Rezension von:
Annette Löseke
New York University Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Anna K. Grasskamp
Empfohlene Zitierweise:
Annette Löseke: Rezension von: Stephanie E. Pitts / Sarah M. Price (eds.): Understanding Audience Engagement in the Contemporary Arts, London / New York: Routledge 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 10 [15.10.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/10/35623.html


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Stephanie E. Pitts / Sarah M. Price (eds.): Understanding Audience Engagement in the Contemporary Arts

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Die 2020 erschienene Studie der Musikerziehungsforscherin Stephanie E. Pitts und der Publikumsforscherin Sarah M. Price untersucht die Rezeption zeitgenössischer Künste in Großbritannien durch ein sich zunehmend diversifizierendes Publikum in den Sparten Musik, Tanz, Theater und Bildende Kunst. Die in der Publikation vorgestellten Thesen stützen sich auf ein zwischen 2014 und 2019 vom britischen Arts and Humanities Research Council gefördertes Forschungsprojekt an der Universität Sheffield. In einer qualitativen Studie wurden insgesamt 187 Einzelinterviews an Kultureinrichtungen in Birmingham, Bristol, Liverpool und London durchgeführt. Ziel der Studie war es herauszufinden, welchen Platz die zeitgenössischen Künste in der heutigen Gesellschaft einnehmen und welche Herausforderungen - bezüglich Zugangsmöglichkeiten, Diversität und gesellschaftlicher Verantwortung - die Rezeption zeitgenössischer Künste aktuell (mit-)bestimmen. In zwei einleitenden und acht thematischen Kapiteln stellen die Autor/innen auf circa 200 Textseiten vor, wie die zeitgenössischen Künste wahrgenommen und interpretiert werden, wie ihre Rezeption durch lokale Kontexte geformt wird, welche (mentalen) Barrieren bestehen und inwiefern von einem spezifischen Publikum zeitgenössischer Künste gesprochen werden kann.

Im Eingangskapitel wird zunächst auf konzeptuelle Herausforderungen wie die Unschärfe des Begriffs "contemporary art" hingewiesen. Um den Forschungsgegenstand einzugrenzen und den Finanzierungsstrukturen der öffentlichen Hand und des kommerziellen Kultursektors Rechnung zu tragen, bezeichnen die Autor/innen diejenigen Künste als zeitgenössisch, die als neu (im Sinne von nicht etabliert und ungewohnt) und innovativ oder herausfordernd betrachtet werden können. Kapitel 2 erläutert den Aufbau der Studie, die Wahl des qualitativen Ansatzes und die Entscheidung, die Untersuchung auf Metropolregionen mit demographisch diversem Publikum und einem breiten Angebot zeitgenössischer Künste zu beschränken.

Im dritten Kapitel wird beschrieben, inwiefern verbreitete Stereotype zur Unverständlichkeit zeitgenössischer Künste selbst bei einem engagierten Publikum zu ablehnenden Haltungen beitragen können. Das vierte Kapitel erforscht vergleichend, wie lokale Kontexte die Rezeption, Zugehörigkeits- oder Exklusionsgefühle und städtisches Engagement prägen, indem sie urbane Infrastrukturen für den Zugang zu zeitgenössischer Kunst bereitstellen. Im fünften Kapitel legen die Autor/innen dar, inwiefern Zugangsmöglichkeiten und (mentale) Barrieren sparten- und ortsspezifisch empfunden werden. Hervorgehoben wird, dass die Befragten klare Aussagen sowie soziale und politische Themen mit aktuellem Bezug bevorzugen. Vermehrt werden Kultureinrichtungen auch aufgrund ethischer Erwägungen zu sozialen und ökologischen Implikationen bestimmter Veranstaltungen besucht oder aber boykottiert.

Kapitel 6 erläutert, dass Persönlichkeitsmerkmale wie Offenheit und Risikotoleranz bezüglich neuer Erfahrungen entscheidender für den Umgang mit zeitgenössischer Kunst sind als der soziale Hintergrund der Rezipierenden. Daran anknüpfend beschreibt Kapitel 7, auf welche Weise sich die Befragten ungewohnten künstlerischen Angeboten nähern und wie sie damit umgehen, das Rezipierte nicht sogleich zu mögen oder nachvollziehen zu können. Kapitel 8 setzt sich mit der Erfahrung von Texten, die auf Labels, Informationsmaterialien und bei Vermittlungsveranstaltungen verwendet werden, auseinander und konstatiert, dass deren Sprache oft als zu akademisch wahrgenommen wird.

Kapitel 9 widmet sich Aspekten der Diversität und Exklusion in Kunstpraktiken, die durch öffentliche Mittel gefördert wurden. Die Autor/innen erörtern insbesondere die Gründe von Nicht-Nutzer/innen, die zeitgenössischen Künste wegen Benachteiligungen aufgrund von Klassismus, Rassismus, Gender-bezogener Diskriminierung oder Ableismus zu meiden. Sie fragen nicht nur, was von denjenigen zu lernen ist, die in der Rezeption zeitgenössischer Künste statt der Bestätigung eigener Erwartungen eher die Herausforderung suchen, sondern überlegen auch, inwiefern die zeitgenössischen Künste mit Hilfe qualitativer Forschung inklusiver zu gestalten sind. Besprochen wird etwa die Ansicht vieler Befragter, durch die Rezeption zeitgenössischer Kunst insbesondere diejenigen Künstler/innen unterstützen zu können, die aufgrund von Rassismus, Klassismus oder Gender-bezogener Diskriminierung bislang unterrepräsentiert sind. Dadurch seien zudem künstlerische Positionen kennenzulernen, die in den von Weißen, männlichen, bürgerlichen Kunstschaffenden dominierten historischen Künsten kaum zu finden seien.

Das abschließende Kapitel erörtert, was von den Befragten über die Zukunft der zeitgenössischen Künste, Künstler/innen, Kunsteinrichtungen und Besucher/innen zu lernen ist. Hier konstatieren die Autor/innen vor allem divergente Rezeptionserfahrungen, die bei einigen Besucher/innen zu einem Empfinden von Ausschluss und Entfremdung (und dadurch zu Irritation und Ablehnung) führen und von anderen als willkommene Herausforderungen oder positiv konnotierte Offenheits- und Unsicherheitserfahrungen erlebt werden. Weiteren Forschungsbedarf sehen die Autor/innen zudem in Bezug auf ethisch motiviertes Rezeptionsverhalten in Zeiten zunehmender öffentlicher Kritik an überkommenen kulturellen Hegemonien und nicht nachhaltigem Handeln.

Die Autor/innen legen eine sehr lesenswerte Studie zur bislang untererforschten Rezeption (und Nichtrezeption) der zeitgenössischen Künste vor. Trotz ihres britischen Kontexts dürften zentrale Fragestellungen der Studie für Kultursektoren in vergleichbaren Ländern relevant sein. Zuzustimmen ist der Forderung nach verstärkter qualitativer wie quantitativer Erforschung des Potenzials zeitgenössischer Künste, marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen in zunehmend polarisierenden gesellschaftlichen Debatten Gehör zu verschaffen. Ebenso unterstützenswert ist der Befund, ethische Erwägungen des Publikums rund um Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit näher erforschen zu müssen. Allerdings hätten die Autor/innen die sozial und politisch geprägten Dimensionen der zeitgenössischen künstlerischen Produktions-, Disseminations- und Rezeptionspraxis noch stärker in den Blick nehmen können, um historisch geprägte Exklusionsmechanismen im Feld der zeitgenössischen Künste zu erforschen. Dazu wäre allerdings der Begriff der zeitgenössischen Künste schärfer zu fassen gewesen; diese müssten vor allem als (auch) historisch geprägt verstanden und problematisiert werden. [1] Zu überdenken wäre auch der Forschungsgegenstand der Studie selbst: die Rezeption durch ein Publikum. Der in der Studie wie auch im Feld der Publikumsforschung insgesamt verwendete Begriff des 'Publikums' wird den Dynamiken, die etwa durch neue Akteur/innen und die Sozialen Medien befeuert werden, kaum mehr gerecht. In politisch turbulenten Zeiten wären stattdessen etwa auch Aktivist/innen in die Forschung miteinzubeziehen, die nicht nur rezipieren, sondern (zeitgenössische) Kunst ko-kreieren und quer durch das politische Spektrum zu eigenen Zwecken rekontextualisieren und instrumentalisieren. Vor diesem Hintergrund wäre ferner zu klären, was die Autor/innen mit "civic engagement" meinen und wie das in der Studie identifizierte inklusive Potenzial der zeitgenössischen Künste im Sinne eines zivilgesellschaftlichen Engagements fruchtbar gemacht, aber auch bestehende Entfremdungs- und Ablehnungstendenzen angegangen werden könnten. Anknüpfungspunkte für eine derartig erweiterte Forschung finden sich in der Studie durchaus, etwa zu lokalen Beispielen zivilgesellschaftlichen Engagements (Kapitel 4), zu "consumer activism" (Kapitel 5), zur Offenheit, mit Ungewohntem umzugehen (Kapitel 6 und 7) und zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit (Kapitel 9). Die im Rahmen qualitativer Forschung fundierte und aktuelle Entwicklungen im Kultursektor aufgreifende Studie bietet damit reichlich Material, den methodischen Zugriff weiter zu aktualisieren und die bestehende Forschung in den genannten Bereichen zu vertiefen.


Anmerkung:

[1] Claire Bishop: Radical Museology or, What's Contemporary in Museums of Contemporary Art?, Manchester 2013.

Annette Löseke