Henry Keazor: Raffaels Schule von Athen. Von der Philosphenakademie zur Hall of Fame, Berlin: Wagenbach 2021, 301 S., zahlr. Farbabb., ISBN 978-3-8031-3695-4, EUR 32,00
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Henry Keazor / Fabienne Liptay / Susanne Marschall (Hgg.): FilmKunst. Studien an den Grenzen der Künste und Medien, Marburg: Schüren-Verlag GmbH 2011
Henry Keazor: "Il vero modo". Die Malereireform der Carracci, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2007
Henry Keazor / Tina Öcal (Hgg.): Der Fall Beltracchi und die Folgen. Interdisziplinäre Fälschungsforschung heute, Berlin: De Gruyter 2014
Wenn der Begriff 'Ikone der Kunstgeschichte' auf ein Kunstwerk zutrifft, dann auf Raffaels Schule von Athen: Sie zählt zu den bekanntesten Werken der westlichen Kunst und hat es bis in die visuelle Zitatkultur der Gegenwart geschafft. Das ist umso bemerkenswerter, als Raffael, einst Vorbild ganzer Künstlergenerationen, dessen Transfiguration gar dreihundert Jahre lang das berühmteste Gemälde der Welt genannt wurde, im 20. Jahrhundert stark an Popularität hat einbüßen müssen. Die Schule von Athen ragt hierüber unbeschadet hinweg.
Eine umfassende Rezeptionsgeschichte jenseits von Einzelstudien ist aber bislang nicht vorgelegt worden. Mit seinem Buch zielt Henry Keazor auf diese Lücke und definiert im Prolog das Ziel, "anhand exemplarischer Beispiele die verschiedenen Rezeptionen und Adaptionen von Raffaels Schule von Athen durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart" (18) zu untersuchen. Auch nimmt er die Antwort auf die wichtigste Frage vorweg, die sich jeder Rezeptionsgeschichte stellt: Wie ausschlaggebend sind werkimmanente Eigenschaften oder äußere, kontingente Faktoren? Keazors Antwort ist eine werkeigene Pluripotenz, inhaltlich als "idealtypisches 'Standes'- oder 'Zunftbild' der Philosophie" und als vermeintliches 'who is who' der Renaissancekunst, kompositorisch als Versammlung verschiedener Figuren in sinnvoller Interaktion und eingebettet in ein einfach erfassbares räumliches Bühnengerüst (9-11). Angerissen wird ein möglicher Erklärungsansatz mit Rückgriff auf Aby Warburg (20-22). Wohin die Reise geht, macht auch die Wahl der Illustrationen sinnfällig: Auf den ersten drei Seiten des Prologs sind das ein Ausschnitt aus Wikipedia, einem Pen- und Paperrollenspiel und einem Musikvideo, die auf je eigene Weise das Kunstwerk aufrufen. Dieser erfrischende Auftakt unterstreicht, dass eine gute Rezeptionsgeschichte sich aller Arten von Quellen annehmen muss, egal, ob als Hochkunst oder Populärkultur klassiert.
Die folgenden sieben Kapitel schreiten chronologisch durch die Jahrhunderte und nehmen sich zugleich bestimmte Rezeptionsformen vor. Zahlreiche bekannte Studien werden rekapituliert und davon ausgehende Forschungsaspekte ausführlich diskutiert. Den Grund legt eine Einbettung des Freskos im Raumprogramm der Stanzen und die Verklammerung mit, aber auch der Unterschied zur Disputà, der in einer größeren Gestaltungsfreiheit und einem neutraleren und so anschlussfähigerem Bildinhalt ausgemacht wird (46-47). Im 16. und 17. Jahrhundert dominieren christliche Interpretationen und die Rezeption wandert über Druckgraphiken bis hin zu Gemälden französischer Maler wie Eustache Le Sueur, wofür Keazor auf das gut bearbeitete Feld der französischen Raffaelrezeption zurückgreifen kann. Im 17. und 18. Jahrhundert wird die Schule von Athen aber auch als Vorlage benutzt, um den Anspruch einer Kunstakademie zu formulieren, mit Beispielen von Pietro Testa und Carlo Maratta, oder als aemulierende Vorlage für junge Künstler ebenso wie gestandene Größen wie Nicolas Poussin. Kapitel fünf widmet sich Parodien auf die Schule von Athen, oder, wie Keazor präzisiert, Parodien auf die Kunstrezeption der Zeitgenossen. Im Zentrum stehen Willam Hogarth und Joshua Reynolds, der gerade nicht als der erste Parodist auf das Kunstwerk gelten könne (127). Vor allem kann hierdurch eine weitere Öffnung des Vorbildes hin zum Rollenportrait und für neue Inhalte beobachtet werden (150-151).
Kapitel sechs analysiert Adaptionen des Kunstwerks für die Visualisierungen von Epochen-, Geschichts- oder Lehrbildern. Das positivistisch begeisterte 19. Jahrhundert und Künstler von Paul Delaroche bis Wilhelm von Kaulbach finden für die Darstellung abstrakter Zusammenhänge in der Schule von Athen eine willkommene Vorlage. Der Übergang zum tableau vivant liegt nahe. Damit ist die Überleitung zum letzten Kapitel und dem 20. und 21. Jahrhundert hergestellt. Hier breitet Keazor eine Fülle von Aneignungen und Nachstellungen in verschiedensten Medien aus, als "akademisches Klassenphoto" (221), das Aufrufen in Comics (235-237), für eine Werbekampagne (237-238) oder das Nachbauen von Architekturteilen für repräsentative Platz- und Foyersituationen (215-218). Auch Videospiele in Form eines populären Egoshooters fehlen nicht (249-251).
Hier endet das Buch etwas abrupt mit dem Abschlusssatz: "Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dass moderne Klassiker sich dadurch auszeichnen, dass sie nicht nur vielfältig an- und verwandelbar sind, sondern sich auch über Generationen und Kulturen hinweg besonderer Wertschätzung sowie beständiger Aktualisierung erfreuen - die Schule von Athen könnte ihn mit Leichtigkeit erbringen." (251) So sehr dies nach dem Gang durch die einzelnen Zeit- und Themenschnitte einleuchtet, es lässt eine Kaskade an Fragen folgen: Was ist dieses Klassische, was sind die Werte, die hier an einen 'Alten Meister' oder die Renaissance als Epoche adressiert werden? Die Annahme, die Rezeption entspreche einem stetig und linear wachsenden Maß an Bekanntheit (18, 201), ließe sich differenzierter auf Dynamiken hin untersuchen. Auch ein abrundender Vergleich zur Rezeption eines anderen Kunstwerkes hätte die Analyse stärken können, etwa zu Leonardos Letztem Abendmahl, das eine analoge Pluripotenz zeigt und auch kurz bezüglich einer Adaption von Ben Willikens gestreift wird (210-211). Obwohl diese Fragen über den selbstgesetzten Rahmen des Buches hinausreichen, hätte hier ein Epilog mit einem größeren Ausblick gut getan.
Ein durchgehendes Merkmal des Buches ist die Konzentration auf visuelle Quellen, während schriftliche Rezeptionen punktuell eingeflochten sind. Das gibt dem Buch eine klare Linie und stärkt die Übersichtlichkeit, ein möglichst vollständiger Rezeptionsatlas der Schule von Athen ist es dadurch aber nicht. Das hätte den Buchumfang auch mehrfach gesprengt und wäre sicher zu Lasten des gut verständlichen und angenehm lesbaren Schreibstils gegangen. Wer lange, katalogartige Ketten an historischen Bildbeschreibungen, Reproduktionen und Bildzitaten sucht, wird weiter auch verstreute Fundplätze aufsuchen oder Datenbanken einschlägiger Sammlungen konsultieren. [1] Indem das Buch aber diesen umfassenden Anspruch nicht stellt, bewahrt es seine Stärke als Versammlung konzentrierter Beispieluntersuchungen. Sie schlagen einen Pfad durch fünf Jahrhunderte und bündeln und bereichern vorhandene Forschungsansätze. Insbesondere der multimediale Ansatz für die Gegenwart begeistert und erweitert den Quellenhorizont merklich. Entlang dieses geschlagenen Pfades knüpfen sich viele weitere Fragen an, die das Buch zu einem wertvollen Ausgangspunkt für weitere Studien machen werden.
Anmerkung:
[1] Z.B. die zum Raffaeljubiläum 2020 aufgearbeiteten Bestände der Hamburger Kunsthalle (https://www.hamburger-kunsthalle.de/das-raffael-album). Zugriff: 17.9.2021.
Sebastian Dohe