Hannes Burkhardt: Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram (= Beihefte zur Zeitschrift für Geschichtsdidaktik; Bd. 23), Göttingen: V&R unipress 2021, 664 S., ISBN 978-3-8471-1251-8, EUR 80,00
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Geschichte in sozialen Medien hat Hochkonjunktur. Allein unter dem Hashtag #history finden sich auf Instagram 41 Millionen Beiträge, "Sophie Scholl" folgten im gleichen Medium zwischenzeitlich über eine Million Nutzer*innen. Social-Media-Beiträge zählen heute vermutlich zu den Nutzer*innen- und reichweitenstärksten geschichts- und erinnerungskulturellen Produkten, sind von der historischen Forschung bisher aber noch verhältnismäßig selten untersucht worden. So hält auch Hannes Burkhardt zu Beginn seiner 2021 veröffentlichten Studie "Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram" fest, dass zwar insbesondere die Geschichtsdidaktik eine Vielzahl von Überlegungen zum historischen Lernen mit digitalen Medien vorgelegt hätte, hinsichtlich medienspezifischer Praktiken bis heute jedoch kaum etwas darüber bekannt sei "wie und von wem Geschichte in den Social Media erzählt wird, obwohl mit geschichtsvermittelnden Social-Media-Angeboten Millionen von Menschen täglich erreicht" würden (15). In seinem Buch, eine leicht überarbeitete Fassung seiner 2018 an der Universität Erlangen-Nürnberg eingereichten Dissertation, widmet er sich deshalb gleich vier sozialen Medien, um diese in Hinblick auf narrative und diskursive Aushandlungen des Nationalsozialismus und Holocaust zu untersuchen. Das ist ambitioniert und deshalb nicht immer tiefenscharf, ermöglicht aber doch wichtige Einblicke in ein Themenfeld, das für die Geschichtswissenschaft immer wichtiger wird.
Für die Untersuchung leitend ist die Frage, inwiefern sich in Geschichtsnarrationen in sozialen Medien etablierte und wirkungsmächtige Diskurse narrativ und diskursiv fortsetzen und welche medienbedingten Transformationsprozesse feststellbar sind (18). Der Autor analysiert dafür sechs Fallbeispiele, die den Kategorien 'historische Orte', 'Personen' und 'Ereignisse' zugeordnet werden können. Das Staatliche Museum Auschwitz-Birkenau und das Anne Frank Haus repräsentieren institutionelle Angebote; die Twitter-Projekte @9Nov38 und @RealTimeWWII können Historiker*innen zugeordnet werden. Als historische Personen wurden mit Claus Schenk Graf von Stauffenberg und Irma Grese bewusst zwei kollektiv kontrovers erinnerte Personen ausgewählt, die zudem keine Holocaustopfer gewesen sind (292-293). Ziel der Untersuchung ist keine erschöpfende Darstellung des Materials, sondern eine erste Annäherung und analytische Beschreibung der "Funktionsweisen von Erinnerungskulturen, Transformationsprozesse von Erinnerungsdiskursen sowie Vermittlungsstrategien von Geschichtsnarrationen in den Social Media" (553).
Das Thema des Buches steht an der Schnittstelle von Geschichtsdidaktik, Memory Studies, Medienwissenschaften und Digital (Public) History, wenngleich Hannes Burkhardt sich vor allem auf die inhaltliche Ebene fokussiert und Fragen des Quellenzugangs, digitaler Quellenkritik und Algorithmisierung überwiegend ausspart. Er selbst verortet seine Studie auf theoretischer Ebene in einer "als Kulturwissenschaft verstandene[n] Geschichtsdidaktik" (49), die sich kulturwissenschaftlichen Gedächtnistheorien bedient und "die Begriffe Geschichtskultur und Erinnerungskultur parallel verwendet" (110). Den Erinnerungskulturen in Social Media - eine Fortsetzung der Erinnerungskulturen im Cyberspace (Wolfram Dornik), Erinnerungskulturen online (Dörte Hein) und Erinnerungskultur 2.0 (Erik Meyer) (20) - nähert sich Hannes Burkhardt über Astrid Erlls Medienbegriff "Medium des kollektiven Gedächtnisses" an, dessen materiale und soziale Dimension für die Untersuchung der Fallbeispiele leitend sind (71-95). Auf methodischer Ebene kombiniert er für die Datenerhebung und -analyse das Fünf-Phasenmodell für Social-Media-Monitoring von Oliver Plauschinat / Florian Klaus mit einer Diskursanalytischen Mehrebenenanalyse (DIMEAN) nach Ingo Warnke / Jürgen Spitzmüller (111-112).
Das Buch gliedert sich im Wesentlichen in vier Teile. Der Einleitung mit umfangreichem Überblick über den Forschungsstand im weiten Feld "Geschichte und Internet", folgt ein ausführliches Grundlagenkapitel, in dem zunächst die theoretischen und methodischen Zugänge auf Basis der Forschungsdiskussion fundiert und reflektiert hergeleitet werden. Darüber hinaus findet sich eine ausführliche Darstellung kulturwissenschaftlicher Gedächtnistheorien sowie Begriffsgeschichte sozialer Medien, die eine hilfreiche Grundlage für zukünftige Forschungen im Themenfeld schaffen. Kernstück der Arbeit bilden die anschließenden Empiriekapitel, die größtenteils gleich aufgebaut sind: zu jedem Fallbeispiel werden zunächst die dominanten erinnerungskulturellen Narrative und Diskurse herausgearbeitet. Sie liefern die theoretischen Vorannahmen, auf deren Basis die Ausgangsfrage zirkulär geprüft wird. Hierfür wird das erhobene Material medienweise Kategorien zugeordnet. Für diese werden einzelne Beispiele mit quantitativen Angaben (Follower*innen, Likes, Kommentare, Shares), Befunden auf der intra- und transtextuellen Ebene, der Akteursebene sowie Besonderheiten vorgestellt. Nutzer*innenkommentare werden vereinzelt analysiert. Jedes Kapitel schließt mit einer Zusammenfassung der zentralen Befunde, die angesichts des herausfordernden Umfangs der Lektüre einen gezielten Zugriff ermöglicht.
Die Diskursanalyse erfolgt aufgrund des Umfangs des Datenmaterials vor allem breit und exemplarisch. Es gelingt Hannes Burkhardt jedoch überzeugend, übergeordnete Muster und Thesen abzuleiten, die er gezielt als Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen formuliert. So stellt er weitestgehend beispielübergreifend fest, dass sich die bereits bestehenden dominanten Erinnerungsmuster in den sozialen Medien in "unterschiedlichen diskursiven und medialen Transformationen" (476) fortsetzen. Die Fortschreibung führender Erinnerungskulturen sowie "Prozesse von Reduzierungen der Diskurskomplexitäten, Banalisierungen, Trivialisierungen und Universalisierungen" (558) finden sich dabei vor allem bei privaten Nutzer*innen; bei Institutionen und mehr noch Historiker*innen sind auch Durchbrechungen dieser Muster zu beobachten. Darüber hinaus entstehen durch die Remedialisierung in sozialen Medien auch neue Formen der Erinnerung, wie Erinnerungsbeiträge (562) oder digitales Reenactment historischer Personen. Insgesamt finde man Erinnerungskulturen, "die erheblich geprägt sind von nationalen und transnationalen Erinnerungsdiskursen und -narrativen und von der Materialität des Erinnerungsmediums in materiell-medialer und sozial-kommunikativer Hinsicht" (486). Kontroverse Debatten und diskursiver Austausch stellen trotz der Interaktionsmöglichkeiten der Medien jedoch eher Randphänomene dar (555).
Erhellend - wenngleich auch etwas unvermittelt - ist der abschließende Ausblick auf mögliche Potenziale von Social Media für historisches Lernen im Geschichtsunterricht. Chancen sieht Hannes Burkhardt dabei vor allem "im starken Lebenswelt- und Gegenwartsbezug und in der im Vergleich zu anderen Medien deutlichen Erkennbarkeit des Konstruktcharakters, der Narrativität und der Kontroversität von Geschichte" (565).
Die größte Stärke der Studie liegt vor allem in ihrer Differenziertheit. Hannes Burkhardt verweist bei der Analyse der Fallbeispiele gleichzeitig auf die Herausforderungen und Schattenseiten sozialer Medien sowie deren Chancen. Fundierte Einordnungen rechter Filterblasen und Instrumentalisierungen wie im Falle der Erinnerungsdiskurse zu Irma Grese finden sich ebenso wie Verweise auf Vermittlungspotenziale durch Institutionen, #twistory oder Counterspeech und machen somit die Vielschichtigkeit sozialer Medien deutlich.
Ein Wermutstropfen - vom Autor selbst abschließend reflektiert (554) - ist, dass sich den einzelnen Medien hauptsächlich über den Überbegriff 'soziale Medien' genähert wird und die Spezifika der einzelnen Anwendungen nur vereinzelt während der Diskursanalyse aufgegriffen werden. Eine detailliertere Gegenüberstellung medialer Spezifika, der jeweiligen Nutzer*innengruppen sowie der gesellschaftlichen Bedeutung der einzelnen Medien zum Erhebungszeitpunkt würden die Ergebnisse aus heutiger Perspektive jedoch erheblich besser vergleich- oder zumindest einordbar machen. Das gilt insbesondere, weil Hannes Burkhardt seine Erhebungen im Wesentlichen im Jahr 2016 durchgeführt hat und sich Funktionalitäten, Datenmengen und Relevanz der Medien seitdem erheblich entwickelt haben. So kann in Anbetracht höherer Zeichenlimits, der Verbreitung audiovisueller Formate oder der Popularität geschichtsbezogener Großprojekte in den sozialen Medien beispielsweise seine These hinterfragt werden, dass es sich bei "Geschichtserzählungen als Teil von Erinnerungskulturen in den Social Media - den medialen Gegebenheiten und kommunikativen Praktiken entsprechend - um offene und stark fragmentierte Geschichtsnarrationen ohne Dramaturgie oder Plot" handle, die "nicht dem Paradigma einer ausgewogenen, geschlossenen oder triftigen Erzählung verpflichtet" seien (560). Angemerkt sei außerdem, dass dem Buch streckenweise ein sorgfältigeres Lektorat zu wünschen gewesen wäre, um Unsauberkeiten und Redundanzen zu vermeiden.
Davon unbenommen hat Hannes Burkhardt eine lesenswerte Studie vorgelegt, die ihre eigenen Grenzen kennt und die Komplexität von Geschichtsdarstellungen in sozialen Medien ernst nimmt. So enthält das abschließende Kapitel nicht nur eine Präsentation der zentralen Ergebnisse, sondern thematisiert auch umfangreich noch zu füllende Leerstellen und Forschungsdesiderate, insbesondere in Hinblick auf qualitative Studien zu Erzähl- und Erinnerungspraktiken oder Motivationen der Produzent*innen und Rezipient*innen (569-570). Hannes Burkhardts Buch wird vielen Forscher*innen, die sich mit Geschichtsdarstellungen in sozialen Medien beschäftigen wollen, sicher eine gute Grundlage liefern, von der aus Geschichte in sozialen Medien in seinem Sinne weiter erforscht, für das historische Lernen nutzbar gemacht und empirisch geprüft werden kann.
Mia Berg