Pierre des Vaux-de-Cernay: Historia Albigensi. Kreuzzug gegen die Albigenser. Übersetzt und kommentiert von Gerhard E. Sollbach (= Mittellateinische Bibliothek; Bd. 9), Stuttgart: Anton Hiersemann 2021, XXXVIII + 360 S., eine Kt., ISBN 978-3-7772-2116-8, EUR 49,00
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Gleich vorweg muss ich eingestehen, dass diese Rezension einen Mangel hat: Es war mir nicht möglich, die zu Grunde liegende Edition des Textes von Pierre des Vaux-de-Cernay einzusehen, so dass Stichproben zum lateinischen Text anhand des alten Textes in MPL 213 erfolgten. [1]
Sollbach liefert hier den lateinischen Text nach der Edition von Guébin und Lyon aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit einer deutschen Übersetzung. Dem vorausgegangen ist bereits eine Übersetzung des Textes, die 1997 im Manesse Verlag erschienen ist. [2] Dabei ist es nicht ganz einfach nachzuvollziehen, wie weit mögliche Umarbeitungen gegenüber der Ausgabe von 1997 reichen: In einem Inhaltsverzeichnis werden hier 176 Kapitelüberschriften zu Pierres Text gegeben, 113 davon lassen sich im Inhaltsverzeichnis zu der Ausgabe von 1997 wiederfinden. Auf Grundlage des Inhaltsverzeichnisses dieser Ausgabe mag man sich fragen, ob von den mindestens 616 Kapiteln des lateinischen Textes 440 fehlen. Bei der Lektüre stellt man jedoch fest, dass nur Abschnitte in das Verzeichnis aufgenommen wurden, denen eine Überschrift zugeordnet wurde. [3] Ob unterhalb dieser Glocke der Text der beiden Ausgaben identisch ist, vermag ich nicht zu sagen. Auf Seite XXXVII erfährt man, dass es sich um eine "leicht gekürzte [...] deutsche[...] Übersetzung" handele.
Bevor der Kern des Bandes, der Text des Pierre des Vaux-de-Cernay, geboten wird, gibt es eine Einführung zu den Albigensern und eine Vorstellung von Autor und Text. Dabei fallen einige Punkte auf. Die Einleitung wird beschlossen von "Literaturhinweisen", die somit nicht den Anspruch erheben, vollständig zu sein - und die auch gewiss nicht immer Eingang in die Formulierung der Einleitung gefunden haben. Darunter finden sich einige Klassiker der Katharer-Forschung wie Jean Duvernoy, Michel Roquebert und auch aktuelle Forscher und Forscherinnen wie Jörg Oberste, Anne Brenon, Daniela Müller. Andere Titel jedoch schlagen eine Richtung ein, die an eine 'Kriminalgeschichte des Christentums' gemahnen. [4] Der durchaus kontroverse Tagungsband 'Cathars in Question' wird aufgeführt, aber nicht erkennbar eingearbeitet. [5] Auch mag sich ein Leser, der sich bereits bei den Katharern eingearbeitet hat, über ein paar innere Widersprüche, vor allem aber über folgende Punkte wundern: So ist dem Übersetzer beispielsweise einiges über Bildungsgeschichte und Seelenleben (XXXI-XXXII) des mittelalterlichen Autors bekannt. Vielleicht haben mittelalterliche Vorstellungen vom Zeugenwert etwas viel Gewicht auch in der heutigen Bewertung bekommen, wenn es heißt, dass Pierres Bericht besonders vertrauenswürdig sei, da er alles "von hochgestellten und absolut glaubwürdigen Gewährsleuten erfahren hatte." (XXXIII). Interessanterweise findet sich fast dieselbe Formulierung in der lateinischen Einleitung Pierres zu seinem eigenen Text (2). Gerade in diesem Zusammenhang mag man sich auch fragen, ob manche quellenkritische Einlassung mehr ein Opfer an den Gott der Geschichtswissenschaften darstellt, als eine tatsächliche Frucht von kritisch durchdachtem Quellentext. Hierzu gehört beispielsweise ein Phänomen bei der Gestaltung von Anmerkungen: In der Einleitung finden sich acht Fußnoten, worin Dinge wie 'Okzitanien' oder 'Doketismus' erläutert werden. Die Augenzeugenschaft Pierres wird in der Einleitung festgestellt, aber woran diese erkennbar ist, ist wohl derart evident, dass man den Leser nicht damit behelligen muss (XXXIII). Der Editionstext ist hingegen von den Fesseln aller Anmerkungen, textkritischer oder sachkritischer Natur, befreit worden, dafür gibt es aber einen Apparat von Endnoten: für alle gebotenen Kapitel insgesamt 91 Anmerkungen, die sich weitgehend darauf beschränken, Personen und Daten oder historische Dinge (Barbakane, Widder, Anathema, ...) zu erklären. 13 dieser 91 Anmerkungen entfallen auf Similien, davon zehn Bibelstellen und drei Klassikerzitate (Horaz, Ovid, Plautus). Dagegen erfährt man in der Einleitung: "Wie allgemein bei mittelalterlichen Autoren üblich, hat auch Pierre des Vaux-de-Cernay Formulierungen in direkter oder - zumeist - indirekter Form aus anderen Werken entnommen, vor allem aus der Bibel, den Werken der Kirchenväter, einige auch aus den Schriften Bernhards von Clairvaux, eine größere Anzahl aber auch aus den Darstellungen der Kreuzzüge in das Heilige Land." (XXXIV). Ähnliches gilt für die "große Erzählkunst des Autors", die vor allem das "Werk [...] zu einer so wertvollen Quelle macht" (XXXVI). Beim Waltharius wird man wohl auch von großer Erzählkunst sprechen dürfen, aber für eine ereignisgeschichtliche Erörterung dürfte der Quellenwert doch überschaubar sein. Und woran sich die große Erzählkunst erkennen lässt, wird dem Leser nicht auseinandergesetzt. Nun ist der Rezensent zwar in Schwelm auf die Engelbert-Grundschule gegangen, ist aber dennoch ratlos, weshalb eine Person, die Pierre nur zweimal erwähnt (Erzbischof Engelbert von Köln), als Referenzpunkt in der Einleitung benutzt wird (XXVI).
Aber das betrifft die Einleitung; wichtig ist hier die Übersetzung. Hier ist der Rezensent etwas ratlos: Wer soll damit arbeiten? Für ein literarisch interessiertes Publikum ist die Manesse-Ausgabe recht einfach erhältlich. Vielleicht kann man es so formulieren: Die Übersetzung ist didaktisch hochgradig wertvoll, da sich die Studierenden angesichts der Anzahl und des Fokus der Anmerkungen vielfach selbst daran machen müssen, einen Sachkommentar zu erarbeiten. Dass jede Übersetzung zugleich Interpretation ist, kann man gleichfalls deutlich machen. Um aus einer größeren Auswahl eine besonders eindrückliche Stelle herauszugreifen: Es ist meines Erachtens schon ein Unterschied, ob ein Schöpfer sichtbar ist oder Sichtbares geschaffen hat. Dieser Zwiespalt wird aufgeworfen, wenn auf 6/7 übersetzt wird: heretici duos constituebant creatores, invisibilium scilicet, quem vocabant 'benignum' deum, et visibilium quem 'malignum' deum nuncupabant - "Häretiker die Existenz von zwei Schöpfern behaupten, einem unsichtbaren, den sie den 'guten' Gott nennen, und einen sichtbaren, den sie den 'bösen' Gott heißen". Auf derselben Seite könnte man auch diskutieren, ob eine Übersetzung nach antikem Bedeutungsschatz immer die beste Wahl ist, wenn wie folgt übersetzt wird: est suspensus in patibulo - "mit einem Halsblock wie ein Sklave oder Verbrecher aufgehängt".
Man könnte auch diskutieren, wie Namen aus dem lateinischen Text übersetzt werden sollten: Alle Namen werden in heutiges Französisch übertragen. Man könnte auch erwägen, Personen aus dem okzitanischen Sprachraum mit entsprechenden Namensformen wiederzugeben. Besonders gut für den Auftakt einer Seminardiskussion um Übersetzungsentscheidungen dürfte der Genueser Kanoniker Thedisius sein, der im deutschen Text als Thédise wiedergegeben wird (ab 38/39). Diskutieren könnte man auch, welche Verwendung des Komparativ und des Superlativ oder Elativ zu bevorzugen sein könnte. Weitere Unschärfen der Übersetzung ließen sich anführen.
Die genannten Punkte zeigen an: Dem Rezensenten ist nicht ganz klar, wer die Zielgruppe dieses Bandes ist, der immerhin in der Mittellateinischen Bibliothek erscheint. Auch wenn natürlich jeder, der sich mit einer Übersetzung in die Öffentlichkeit wagt, Angriffsfläche für chronisch auf Kritik geeichte Leser bietet, halte ich viele Punkte der Übersetzung dennoch für kritikabel. Die Einleitung liefert gerade für einen Leser, der an einem Seminar zu den Katharern teilnimmt, wenig Erhellendes.
Anmerkungen:
[1] Petri Vallium Sarnaiimonachi Hystoria Albigensis, 3 Bde., hgg. v. Pascal Guébin / Ernest Lyon, Paris 1926-1939.
[2] Pierre des Vaux-de-Cernay : Kreuzzug gegen die Albigenser (Manesse Bibliothek der Weltgeschichte), übers. v. Gerhard Sollbach, Zürich 1997. Lag gleichfalls nicht vor.
[3] http://digitale-objekte.hbz-nrw.de/storage/2012/12/01/file_230/4733547.pdf; https://de.book-info.com/isbn/3-7175-8228-3.htm (letzter Zugriff 6.10.2021).
[4] Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums, hier Bd. 7: Das 13. und 14. Jahrhundert. Von Kaiser Heinrich VI. (1190) zu Kaiser Ludwig dem Bayern (1347), Reinbek 2002.
[5] Cathars in Question, hrsg. v. Antonio Sennis, Woodbridge 2016 (Rezensionen beispielsweise: http://dx.doi.org/10.11588/frrec.2018.1.45568, http://dx.doi.org/10.15463/rec.1562158491).
Andreas Kistner