Rezension über:

Katharina Wolff: Die Theorie der Seuche. Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, 445 S., 4 s/w-Abb., 6 Tbl., ISBN 978-3-515-12969-5, EUR 80,00
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Rezension von:
Dorothée Leidig
Freiburg/Brsg.
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Dorothée Leidig: Rezension von: Katharina Wolff: Die Theorie der Seuche. Krankheitskonzepte und Pestbewältigung im Mittelalter, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 11 [15.11.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/11/36031.html


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Katharina Wolff: Die Theorie der Seuche

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Die bislang vorliegenden Abhandlungen über Seuchen und über die Pest folgen ganz überwiegend einem deskriptiven Ansatz und beschäftigen sich damit, welche Auswirkungen die Pest auf die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche - den Alltag, die Wirtschaft, die Stadtplanung, das Gesundheitswesen, die Justiz etc. - hatte. Katharina Wolff geht in ihrer hervorragenden, knapp 450 Seiten starken Dissertation einen Schritt weiter und fragt, warum man der Pest von den ersten Seuchenzügen 1347/48 bis in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts so begegnete, wie man es tat. Welche Erklärungsansätze hatte man für die Entstehung der Pest? Welche Ideen und Konzepte stecken hinter den vielfältigen Versuchen, die Pest einzudämmen und wie verhielten sich die verschiedenen Ansätze zueinander?

Nach einer Einleitung mit einem Überblick über Seuchen und ihre Rollen in der Geschichte beginnt der spezifische Teil der Untersuchung unter der Überschrift "Historische Loimologie". Hier geht es zunächst um eine Klärung des Begriffs "Pest", denn die klare Definition von Pest und Seuche ist eine moderne Erscheinung. Von der Antike bis weit in die Neuzeit hinein war "Pest" vor allem ein Sammelbegriff für verschiedene schwere Krankheiten, die massenhaft auftraten, wiederkehrende Epidemien etwa wie das Antoniusfeuer oder die Syphillis. Daneben bezeichnete "Pest" auch eben jene vom Bazillus Yersinias pestis hervorgerufene Krankheit, die wir heute in aller Regel meinen, wenn wir von der Pest sprechen. Bei der Interpretation historischer Quellen gilt es daher, stets zu prüfen, welche Pest angesprochen wird.

Im weiteren Verlauf des Kapitels legt Wolff ausführlich und materialreich die verschiedenen Erklärungsmodelle für die Pest dar, die im Untersuchungszeitraum nebeneinander existierten: Dyskrasie (eine schlechte oder fehlerhafte Zusammensetzung der Körpersäfte gemäß der Humoralpathologie), Miasma (Verbreitung einer Krankheit durch schlechte Dünste), Vergiftung, Strafe Gottes oder dämonische Bosheit. Aus diesen vielfältigen Erklärungsansätzen wurden verschiedene Konzepte zum Umgang mit der Krankheit entwickelt. Diese Konzepte - so unterschiedlich sie waren - schlossen sich nicht aus, sondern wurden als verschiedene Optionen betrachtet, um die wiederkehrenden Epidemien zu bekämpfen. Wenn das eine Konzept nicht wirkte, konnte man es mit einem anderen versuchen. So konnten beispielsweise Gebete oder magische Praktiken ganz selbstverständlich eine humoralpathologische Behandlung ergänzen und verstärken. Von der Mitte des 14. bis zur ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts Hälfte desH HHh änderte sich der Kanon der Konzepte nicht, lediglich die Strategien zur Anwendung der Konzepte wechselten sich ab.

Die Optionenvielfalt ist einer der wesentlichen Aspekte, die Katharina Wolff in diesem Kapitel herausarbeitet: "Der große Gewinn zahlreicher Antworten auf die Frage nach einer Seuche bestand in der Optionenvielfalt zu deren Bekämpfung. Die consolatio, der Trost, der aus der Vielfalt der Krankheitskonzepte gewonnen werden konnte, bestand auch darin, dass sie Ordnung in das Chaos der wiederkehrenden Epidemien brachten." (273)

Als weiteren wichtigen Aspekt hebt die Autorin die katalysatorische Wirkung schwerer Epidemien hervor, indem sie zu gravierenden Veränderungen des öffentlichen Lebens wie des Alltags führen und wissenschaftliche Entwicklungen anstoßen. So erhielten im Mittelalter etwa die Ärzte, die bis zum Ausbruch der Pest vor allem mit einzelnen Personen im privaten Bereich befasst waren, eine neue Rolle als öffentlich tätige Experten.

Als ein Indiz für die katalysatorische Funktion der Pest arbeitet Wolff den neuen Schrifttypus der Pestschrift heraus: Aus der "punktuell entschiedenen Krisenintervention" wird eine "planvoll[ ] vorausschauende[ ] Seuchenprävention". (274) Im dritten und vierten Teil ihrer Arbeit widmet sich Katharina Wolff diesem neuen Schrifttyp, wobei sie 31 Pestschriften aus Nürnberg, Augsburg und München tiefgreifend analysiert. Zu diesen beiden Kapiteln gehört ein über 100 Seiten umfassender, höchst verdienstvoller Tabellenteil im Anhang (304-415) mit differenzierten Auswertungen der behandelten Schriften.

Kapitel 6 "Von der Idee zur Wissenschaft: Eine kurze Geschichte der Mikrobiologie" schließt das engere Thema der Arbeit ab. Angefangen bei den Vorstellungen von Krankheitserregern in der antiken Medizin über die mikrobiologischen Erkenntnisse des 19. Jahrhunderts bis zu den modernen Auffassungen über Herkunft und Eigenschaften der Pest fasst Wolff die wesentlichen Stationen der Entwicklung zusammen. Den Seuchen der Gegenwart - von Ebola bis SARS-Cov2 - widmet die Autorin unter dem Titel "Ausblick" das kurze letzte Kapitel des Buches, das naturgemäß die Komplexität dieses Themas nur anreißen kann.

In ihrem Gesamtresümee zeigt Katharina Wolff auf, dass es neben allem Fortschritt in der Behandlung und Bekämpfung von Seuchen auch Kontinuitäten gibt. So brauchen Seuchen zu ihrer Entstehung und Ausbreitung nach wie vor menschliches Zutun, beispielsweise Begegnungen, Essen und Trinken, Körperkontakt oder auch nur den Atem. Der Mikroorganismus ist, um eine Krankheitswelle auszulösen, auf ein menschliches Transportmittel angewiesen. "So ist Seuche heute Virus, Bakterium, Parasit oder Prion, Ergebnis menschlichen Verhaltens, [...] Folge schlechter Umweltbedingungen oder Katastrophen oder Symptom militärischer Auseinandersetzungen. " (275) Man begegnet ihnen - wie schon im Mittelalter - mit multilateralen Strategien. Die Bekämpfung einer Seuche ist auch heute noch sehr stark vom menschlichen Verhalten abhängig: Man muss Hygieneregeln befolgen, sich impfen lassen, Medikamente einnehmen etc. "Seuche bleibt weiterhin etwas, was man tut." (275)

Katharina Wolff legt mit ihrer klar strukturierten Arbeit einen bedeutenden medizinhistorischen Beitrag zur Seuchengeschichte vor, der durch die ihm zugrundeliegende Materialfülle ebenso beeindruckt wie durch deren sorgfältige, gründliche Analyse und Aufbereitung zu einer kohärenten Darstellung. Wenn man nur ein einziges Ergebnis ihrer Forschung hervorheben sollte, wäre es wohl die überzeugend herausgearbeitete große Bedeutung der Optionenvielfalt, die trotz immenser medizinischer Fortschritte bis heute ein wichtiges Instrumentarium der Seuchenbekämpfung ist. Last but not least legt die Autorin ihre Forschungen in einer klaren, präzisen und zugleich geschmeidigen Sprache dar, der man gerne folgt.

Dorothée Leidig