Ulrich Pfisterer / Cristina Ruggero (Hgg.): Phönix aus der Asche. Bildwerdung der Antike - Druckgrafiken bis 1869 (= Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München; Bd. 50), Petersberg: Michael Imhof Verlag 2019, 440 S., 381 Farbabb., ISBN 978-3-7319-0771-8, EUR 49,95
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"Phoenix heißt eine Vogelgestalt in Arabien, so genannt, weil sie Purpurfarbe hat, oder weil sie im gesamten Erdenrund einzigartig und einmalig ist. Denn die Araber sagen für "einzigartig" "phoenix". Diese nun, über 500 Jahre lebend, wenn sie bemerkt, dass sie alt geworden ist, baut sich aus den gesammelten frischen Trieben von Duftkräutern einen Scheiterhaufen, und zu den Strahlen der Sonne gewandt, unter Klatschen der Flügel, nährt sie freiwillig das für sich selbst entzündete Feuer und ersteht auf diese Weise aus ihrer Asche wieder auf." [1] So äußert sich Isidor von Sevilla im 7 Jh. n. Chr. über den Phönix, wobei das mit diesem Vogel verbundene implizite regenerative Potential u.a. sowohl von heidnischen Naturkundlern als auch von christlichen Exegeten stets hervorgehoben wurde.
In das Zeichen dieser "Reinkarnation-Reanimation"-Metapher haben Ulrich Pfisterer und Cristina Ruggero ihren beeindruckenden Begleitkatalog zu der Ausstellung "Phönix aus der Asche. Bildwerdung der Antike - Druckgrafiken bis 1869" im Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München (27.6-22.9.2019) gestellt: "Für diese Dynamiken und andauernden Metamorphosen von Auferstehung, Nachleben und Untergang der Antike bietet sich die mythologische Figur des Phönix, der aus der Asche immer wieder neu aufersteht, als Sinnbild und Begriff an." (17-18)
Die symbolische Figur des Phönix mit der ihr inhärenten Revitalisierungs-Semantik zeigt sich in der Tat durchaus angebracht, um die dynamischen Antikenaneignungs-Prozesse, die reich an Brüchen und komplexen Rückwendungen - und somit keineswegs im Sinne eines in eine Richtung verlaufenden Kreislaufs zu erklären - sind, zu versinnbildlichen. Dabei werden zwei der Schlüsselbegriffe einer auf die Tradition Aby Warburgs zurückgehenden, (bild)gedächtnistheoretisch geprägten Kulturwissenschaft - zu welcher sich die Publikation durch programmatische Wortauswahl bekennt - auf einen gemeinsamen Nenner gebracht: Jener der Wiedererweckung-Erneuerung und jener des Nachlebens der Antike. [2]
In zwölf Stationen und mit Fokus ausschließlich auf die Druckgrafik führt der Band die Leserinnen und Leser kaleidoskopartig durch nahezu sämtliche Themenkomplexe der diachronen Auseinandersetzung mit der antiken Hinterlassenschaft, vom späten 15. bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dabei werden die wichtigsten Methoden und Praktiken der antiquarischen Forschung als Leitfaden für die Kapitelgliederung in den Dienst genommen: Forschen (IV. Reisen zu den Antiken) und Ausgraben (VIII. Grabungsdokumentationen), Vermessen und Studieren (III. Nach Maß, Zahl, Gewicht: Vermessen und Verorten), Bewahren (VII. Sammlungen), Interpretieren und Rekonstruieren (I. Auferstehung: Fantasie und Wissenschaft; IX. Ausdifferenzierungen der visueller Argumentation), taxonomisch Ordnen und Publizieren (V. Das weite Spektrum der antiken materiellen Kultur; X. Wissenssystematiken und Bild-Enzyklopädien). Abgerundet wird dieses weitgefasst angebotene Hauptprogramm durch Kapitel zum Applizieren ästhetischer Kriterien und Normen (II. "Die schönsten Antiken"), zur Erforschung anderer Kulturen (VI. Andere Vergangenheiten), sowie im Ausblick durch zwei Abschnitte zu den stilkundlich geprägten Periodisierungs- und Perspektivierungsversuchen von Geschichte und Kunst im 18. Jahrhundert (XI. Kunstgeschichte der Antike) und zur Selbstreflektion und Selbstinszenierung der Antiquare und Antikenforscher (XII. Die Protagonisten).
Die Reihenfolge der dargebotenen Themenfelder hätte eventuell etwas stringenter sein können. Seinem ambitionierten Versprechen, die Forschungslücke von "historisch übergreifende[n] Darstellungen zu einer ganzen Reihe zentraler epistemischer Funktionen von Bildern, die der Erfassung, Vermittlung und der Wissensgenerierung bzw. dem Fantasieren über die Antike dienten" (11) schließen zu wollen, wird der opulente Band hingegen gerecht: Er wagt sich an die Aufgabe heran, unterschiedliche Aspekte der frühneuzeitlichen Antikenrezeption im Medium der Druckgrafik aus einer bis dato unerreicht weit gefassten Zeitspanne und methodisch unter deren "epistemischen und ästhetischen Qualitäten wie der Mechanismen ihrer Herstellung und Vervielfältigung [...] in größeren Zusammenhängen herauszuarbeiten." (14) Somit wächst die Publikation über ältere grundlegende Unterfangen auf diesem Forschungsgebiet hinaus, welche - aus pragmatischer bzw. zweckgerichteter Motivation - die antiquarischen Buchveröffentlichungen der Frühen Neuzeit entweder rein taxonomisch, gattungs- und objektspezifisch, oder mit zeitlich oder topografisch begrenztem Blickhorizont untersuchten. [3]
Diese Entscheidung eröffnet neue und überraschende Einblicke, z.B. im Falle jener auf dem Forschungsradar bisher weniger beachteten Themenkomplexe, wie etwa - um zwei miteinander eng verknüpfte Aspekte stellvertretend aufzugreifen - die Grabungsdokumentationen (Kap. VIII) und die "Anderen Vergangenheiten" (Kap. VI). Die Fülle des hier dargebotenen Materials, welches sich konsequent nicht nur mit den besser bekannten Fällen von Rom und Neapel begnügt, sondern sich mit weitreichendem (Über)blick auch mit der identitätsstiftenden Altertumskunde nördlich der Alpen (Frankreich, Deutschland, Britannien, Niederlande und Skandinavien), ja auch mit Dokumentationen und Narrativkonstruktionen zur antiken Vorgeschichte in der Levante, in Afrika und im Orient auseinandersetzt, fußt auf Vorarbeiten von Alain Schnapp und Rodolfo Lanciani, [4] setzt dennoch durch die übergreifenden Fragestellungen und die vielfältigen Querbezüge ganz andere Akzente in einem erst kürzlich stärker in den Fokus geratenen Forschungsterrain. [5]
Dass bei einem solchen äußerst ehrgeizig verfolgten Vorhaben ein Anspruch auf Vollständigkeit nicht erhoben werden kann, ist selbstverständlich. Ein gewisses Untergewicht der aus dem 15. und 16. Jahrhundert verwendeten Quelleneditionen bleibt dennoch zu konstatieren. Bezüglich der hervorragenden Aufsätze ist festzuhalten, dass Arnold Nesselraths Beitrag "Zeichner sehen die Antike" eine hilfreiche Ergänzung des dargebotenen Untersuchungsfelds um den Aspekt der Antikennachzeichnung ist, welchen die vorliegende Publikation in ihrem Hauptteil bewusst ausklammert. [6] Der Beitrag von Edith Bernhauer und Cordula Brand zur massenhaften Verbreitung altägyptischer Kultur um 1900 thematisiert exemplarisch die Fotografie als wissenschaftliches Dokumentationsinstrument. Die dazwischen eingebetteten beiden anderen "Case Studies" von Cristina Ruggero, Astrid Fendt und Florian Knauß zur Rezeption der Villa Hadriana entspringen dem von Cristina Ruggero geleiteten und inzwischen abgeschlossenen DFG-Forschungsprojekt Mikrokosmos Villa Hadriana. Ein "künstlerischer Interaktionsraum" im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. [7]
Die Publikation wurde von Anfang an zweisprachig konzipiert. Doch auch für Leserinnen und Leser, die beider Sprachen mächtig sind, ist das stete und gelegentlich nicht konsequent durchgehaltene Pendeln zwischen Italienisch und Deutsch gewöhnungsbedürftig.
Diese unbeträchtlichen Monita und minimalen Kritikpunkte vermögen die vollbrachte Leistung keineswegs zu schmälern, so dass die Publikation einem Thesaurus Antiquitatum gleichkommt, welcher als staunenerregendes wissenschaftsgeschichtliches Kompendium die frühneuzeitliche systematische Erfassung der antiken Welt unter antiquarischen Prämissen neu "kartografiert" und so einzigartig ist, wie es Isidors Eingangszitat über Phönix, den Namensgeber der Publikation, besagt.
Anmerkungen:
[1] Isidor von Sevilla: Etymologiae, 12,7,22.
[2] Martin Treml / Sigrid Weigel: Nachleben in den Kulturwissenschaften. Gegenstand und Methode, in: Trajekte. Extra 6 (2006), 13-16. Vgl. das Publikationsorgan des Census of antique works of art and architecture known to the Renaissance-Projects, betitelt Pegasus. Berliner Beiträge zum Nachleben der Antike.
[3] Beispielhaft seien hier genannt: Margaret Daly Davis: Archäologie der Antike 1500-1700, Wiesbaden 1994; Volker Heenes, Antike in Bildern. Illustrationen in antiquarischen Werken des 16. und 17. Jahrhunderts, Stendal 2003; Henning Wrede: Die "Monumentalisiereung der Antike" um 1700, Ruhpolding 2004; Elisabeth Decultot / Gabriele Bickendorf / Valentin Kockel (Hgg.): Musée de papier. L'Antiquite en livres 1600-1800 (Ausst.Kat.), Paris 2010; Manfred Luchterhandt (Hg.): Abgekupfert. Roms Antiken in den Reproduktionsmedien der Frühen Neuzeit (Ausst.Kat.), Göttingen / Petersberg 2013; Johannes Lipps / Anna Pawlak (Hgg.): Antike im Druck zwischen Imagination und Empirie, (Ausst.Kat.), Tübingen 2018.
[4] Alain Schnapp: La conquête du passé: Aux origines de l'archéologie, Paris 1993; Rodolfo Lanciani: Storia degli scavi di Roma e notizie intorno le collezioni romane di antichità, 4 Bde., Rom 1902-1912.
[5] Vgl. stellvertretend Kathleen Christian / Bianca de Divitis: Local antiquities, local identities. Art, literature and antiquarianism in Europe: 1400-1700, Manchester 2018; Bernd Roling / Bernhard Schirg (eds.): Boreas Rising. Antiquarianism and national narratives in 17th and 18th century Scandinavia, (= Transformationen der Antike, Bd. 53), Berlin 2019.
[6] Vgl. Arnold Nesselrath: Der Zeichner und sein Buch. Die Darstellung der antiken Architektur im 15. und 16 Jahrhundert, Mainz / Ruhpolding 2014.
[7] https://www.zikg.eu/forschung/projekte/projekte-zi/mikrokosmos-villa-hadriana
Michail Chatzidakis