Josef Bongartz: Gericht und Verfahren in der Stadt und im Hochstift Würzburg. Die fürstliche Kanzlei als Zentrum der (Appellations-)Gerichtsbarkeit bis 1618 (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 74), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 452 S., ISBN 978-3-412-51821-9, EUR 70,00
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Mit seiner Würzburger rechtshistorischen Dissertation legt Bongartz eine profunde Studie zur fürstbischöflichen Kanzlei als frühneuzeitlichem Gericht vor. Anhand der Appellationszuständigkeit der Kanzlei manifestierte sich die fürstbischöfliche Landesherrschaft nach innen, weil aufgrund des Devolutiv- und Suspensiveffekts der Appellation die Rechtsprechungstätigkeit der nun zu erstinstanzlichen Gerichten abgestuften Gerichte überprüft werden konnte. Außerdem erweist sich die Kanzlei als ein sich allmählich etablierendes territoriales Höchstgericht für das fränkische Territorium, das Bongartz überzeugend als "Gerichtslandschaft" versteht. Bongartz untersucht die sich allmählich verfestigende Gerichtsfunktion der Kanzlei im Zeitraum von 1474 bis 1618 aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel: Er geht nicht von den anscheinend ohnehin nicht seriell erhaltenen Appellationsakten der Kanzlei aus, sondern stützt sich maßgeblich auf die Würzburg betreffenden Reichskammergerichtsakten. In den Blick kommen dadurch vor allem solche Verfahren, in denen an der Kanzlei vorbei, an das Reichskammergericht appelliert wurde oder in denen im Wege einer weiteren Appellation vom Hofgericht aus nochmals an das Reichskammergericht appelliert wurde. In solchen Fällen war das Würzburger Hofgericht also gerade nicht das "Ende der Appellationsfahnenstange" (S.L.). Es verwundert daher nicht, dass mit zwei Appellationsprivilegien aus dem Jahr 1586 für das Stadt- und auch das Hofgericht Würzburg, die Fürstbischof Julius Echter erwirkt hatte, derartige Appellationen an die höchste Reichsgerichtsbarkeit unterbunden werden sollten und sich danach kaum noch reichskammergerichtliche Appellationsverfahren, die Würzburg betrafen, finden lassen.
Fragen nach der Justiznutzung oder des geographischen Einzugsbereichs werden nur gelegentlich behandelt. Angesichts der Überlieferungslage weist Bongartz mit guten Gründen eine quantitative Auswertung zurück (35-37), weshalb die Arbeitsbelastung der Hofräte als Kanzleigericht, die durchschnittlichen Verfahrensdauern oder Erledigungszahlen nicht bestimmt werden könnten. Der Vorteil von Bongartz' Ansatz besteht darin, keine reine Würzburger Lokalstudie vorzulegen, sondern den Aufbau der Würzburger zentralen Kanzleigerichtsbarkeit in die großen Linien der sich verfestigenden Landesherrschaft und der Professionalisierung des Justizpersonals einzubetten. Besonders deutlich wird dies z.B. in seinen gründlichen Überblickskapiteln zum rechtshistorischen Forschungsstand zur Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reichs (217-228) und zu den Vorzügen des Begriffs der "Gerichtslandschaft" gegenüber dem der Territorialherrschaft (29-32, 62 f.). Für die nicht in der Würzburger Lokal- und Regionalgeschichte bewanderten Leser und Leserinnen wären Karten zur Lage der erstinstanzlichen Dorf- und Zentgerichte ebenso hilfreich gewesen wie eine Liste der Fürstbischöfe mit ihren Regentschaftsjahren, um die jeweils neu erlassenen Kanzleiordnungen besser einordnen zu können.
Im ersten Teil seiner Untersuchung arbeitet Bongartz heraus, von welchen anderen weltlichen Gerichten in Stadt und Land an die fürstliche Kanzlei appelliert werden konnte und sollte. Besonders die nur als Manuskript überlieferte sogenannte Hohe Registratur des Lorenz Fries beschrieb bereits aus der Sicht der Kanzlei die denkbaren erstinstanzlichen Gerichte, von denen eine Appellation an das Kanzleigericht gradatim hochlaufen konnte. Auch für Würzburg kommt Bongartz zum Ergebnis, dass man nicht von klar umrissenen Zuständigkeiten ausgehen kann, sondern dass alle Gerichte eifersüchtig auf die eigene Zuständigkeit pochten. Ebenso wie die fürstliche Kanzlei als bischöfliches Gericht, als Hofgericht, auch als Kanzleigericht bezeichnet wurde, wird auch die von der Stadt Würzburg ausgeübte Gerichtsbarkeit teils als Brückengericht in peinlichen Sachen, als Stadtgericht in erstinstanzlichen Zivilsachen bezeichnet, dagegen als oberste Zent, soweit es als Appellationsgericht in Zivilsachen tätig wurde. Für die letztere Gerichtsbarkeit weist Bongartz eine lange Eigenständigkeit nach, so dass von dort aus an die Kanzlei lediglich im Wege der Revision, nicht aber mittels der Appellation vorgegangen werden konnte (146 f.).
Ob in Strafsachen überhaupt eine Appellation zulässig war, ist generell ein dorniges Thema der Rechtsgeschichte. Mit guten Argumenten hält Bongartz dies sowohl für Appellationen an die oberste Zent wie an die fürstliche Kanzlei im Gegensatz zu älteren Forschungsansätzen für unwahrscheinlich.
Auch für die weiteren Gerichte im Würzburger Hochstift, von denen aus an die Kanzlei appelliert werden konnte, gibt Bongartz bemerkenswerte Einblicke zu den Verfahrensarten wie zur Sitzungshäufigkeit. Eine Ausnahme stellen dabei die Zentgerichte dar. Einerseits betrieben die Fürstbischöfe eine Stärkung dieser auf dem Land für schwerwiegendere Strafsachen (Blutgerichtsbarkeit, aber auch Realinjurien) primär zuständigen Gerichte und führten selbst als Kläger verschiedentlich Appellationsverfahren vor dem Reichskammergericht, um gegenüber anderen erstarkenden territorialen Obrigkeiten aber auch der eigenen Ritterschaft die bischöfliche Zentgerichtsbarkeit zu re-etablieren (192 f.). Andererseits war die Frage, ob die Appellation von diesen Zenten entweder an die oberste Zent in der Stadt Würzburg oder an die Kanzlei zu führen war, durchaus ungeklärt. Durch das aufkommende Inquisitionsverfahren, das seitens der Kanzlei vorangetrieben wurde, wurde jedoch die überkommene Strafgerichtsbarkeit der Zenten sozusagen von innen ausgetrocknet (194, 299, 395).
Der zweite Hauptteil arbeitet sodann die Binnenorganisation der Kanzlei heraus und illustriert anhand eines Falls, wie eine Appellation an die Kanzlei und zu einer weiteren Appellation an das Reichskammergericht führte. Dabei stellt Bongartz die in der Regentschaft eines jeden Fürstbischofs überarbeiteten Hof- und Kanzleiordnungen vor und ermittelt eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den generellen Charakteristika der eindeutig vom gelehrten romanisch-kanonischen Recht beeinflussten Appellation als Rechtsmittel (309-312), später auch eine markante Anlehnung an die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Zentral war der Kanzler, der vor allem für die Zuteilung der Verfahren an spezialisierte Schreiber zuständig war, aber den Hofräten auch die Tagesordnung mit den zur Entscheidung anstehenden Gerichtssachen vorgab. Für den Kanzler, den ihn vertretenden Referendar, für den Syndikus, aber auch für den Hauptteil der zu Gericht sitzenden adligen und bürgerlichen Räte dokumentiert Bongartz ohne Anspruch auf vollständige prosopographische Erfassung universitätsgelehrte Juristen. Bemerkenswert sind auch die angedeuteten Karrierewege zwischen obersten Reichsfunktionen als Reichskammergerichtsassessor und nachmaliger Tätigkeit als Würzburger Kanzler. Unscharf bleibt Bongartz bei den konkreten Studiengängen gelehrter Juristen. Gerne wüsste man, ob man im 16. Jahrhundert noch nach Italien speziell zum Studium des römischen Rechts aufbrach oder ob man bei den Würzburger Juristen durchweg vom wesentlich aufwändigeren Studium des ius utriusque ausgehen muss. Der Fall des von seinen Kollegen offenbar nicht recht als Kanzler akzeptierten Balthasar von Hellu, der "nur" licentiatus in iure war (270), dürfte jedenfalls nicht dessen weniger umfassenden Ausbildung geschuldet gewesen sein. Wer Lizentiat des Rechts war, konnte oder wollte lediglich nicht die Kosten einer aufwändigen Promotionsfeier aufbringen.
Anhand der von Bongartz eingeführten Fallstudie zu einem Appellationsverfahren (313 ff.), in dem es um den Injurienprozess einer wohl fälschlich des Kindsmords beschuldigten Dienstmagd ging, werden die lange Dauer des Verfahrens, das sich von 1569 bis 1576 - nicht zuletzt aufgrund der Probleme bei der Herstellung der Abschrift des nach mündlicher Verhandlung ergangenen erstinstanzlichen Urteils - hinzog, sowie die sozialen Differenzen der Parteien sehr markant deutlich.
Bei allen festgestellten Professionalisierungs- und Verwissenschaftlichungstendenzen ist gegenüber Bongartz festzuhalten, dass es auch noch dem fürstbischöflichen Kanzleigericht an einer Spezialisierung auf Gerichtssachen fehlte. Die Appellationszuständigkeit scheint den Fürstbischöfen als Gerichtsherren eher zur Markierung ihrer gerichtsverfassungsrechtlichen Ansprüche im und außerhalb des Würzburger Territoriums gedient zu haben, als dass sie diese als eine primär den Untertanen geschuldete Kontrollfunktion anderer Gerichte wahrnahmen. Angesichts der wenigen Sitzungstermine des Kanzleigerichts verwundert es nicht, dass die erledigten Verfahren nicht sehr zahlreich gewesen sein können, und dass ganze Säcke von Suppliken unbearbeitet in den Gewölben der Registratur verblieben. Auch scheint eine Archivierung aller Gerichtsverfahren nicht die Hauptaufgabe der Registratur gewesen zu sein, weswegen Bongartz sich für konkrete Appellationsverfahren mittelbar auf die Reichskammergerichtsakten stützt. Die augenscheinlich wenig dichte Würzburger Überlieferung kontrastiert deutlich zu den italienischen Republiken, die seit dem 14. Jahrhundert penibel die Dokumentation aller Gerichtsverfahren und die Ablieferung des Prozessschriftguts durchsetzten. Aus der Warte einer europäischen Rechts- und Gerichtsgeschichte wird man, Bongartz zuspitzend, festhalten dürfen, dass sich im Reich nördlich der Alpen auch bei den Appellationsverfahren Professionalisierungstendenzen rund 200 Jahre später als in den oberitalienischen Stadtrepubliken vollzogen.
Bongartz ist für seine eindrucksvolle Spezialstudie sehr zu danken. Seine Befunde dürften typisch für die territorialen Obergerichte der Frühen Neuzeit sein.
Susanne Lepsius