Martin Lorber / Felix Zimmermann (eds.): History in Games. Contingencies of an Authentic Past (= Studies of Digital Media Culture; Vol. 12), Bielefeld: transcript 2020, 284 S., ISBN 978-3-8376-5420-2, EUR 35,00
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Der Wunsch nach dem Authentischen ist omnipräsent und Teil des gegenwärtigen Zeitgeistes. Dies gilt nicht nur für Kulinarik, Produktmarketing oder zwischenmenschliche Erfahrungen, sondern auch für das Medium des digitalen Spiels. Gerade diejenigen Titel, welche sich mit historischen Inhalten auseinandersetzen, versprechen zum einen häufig selbst, eine authentische Geschichtsdarstellung zu bieten, reagieren damit zum anderen aber auch auf entsprechende Wünsche der Spielerinnen und Spieler. Die Kategorien 'Authentizität', 'Akkuratesse' und 'Realismus' werden dabei meist wenig trennscharf verstanden, wie Felix Zimmermann in der Einleitung von "History in Games. Contingencies of an Authentic Past" betont: "Digital game worlds are not real, and they never will be, but that does not mean that they cannot be authentic, or rather afford authentic experiences." (15)
Der von ihm und Martin Lorber herausgegebene Sammelband aus dem Jahr 2020 trägt den Authentizitätsbegriff nicht nur prominent im Titel, sondern nähert sich digitalen Spielen mit historischen Inhalten explizit unter entsprechenden Fragestellungen an. Auf die meist ungenaue Trennung von 'Authentizität' und 'Akkuratesse' verweisend, spricht sich Zimmermann in den Sammelband einleitend dafür aus, die Diskussion darüber zu beenden, ob dieses oder jenes historische Objekt in digitalen Spielen korrekt dargestellt wird. Vielmehr sollten sich die historischen Game Studies damit beschäftigen, inwiefern digitale Spiele historische Authentizität, also ein Gefühl von Vergangenheit, vermittelten. Diese Prämisse zieht sich durch zahlreiche Beiträge des Sammelbandes.
Der Band teilt sich in drei thematische Abschnitte, die sich jeweils aus vier Beiträgen zusammensetzen. Den Herausgebern ist es dabei gelungen, eine angenehme Mischung aus eher theorielastigen und verstärkt empirischen Beiträgen zusammenzustellen. Als Autorinnen und Autoren vertreten sind sowohl bekannte Namen aus dem Forschungsfeld der historischen Game Studies, etwa Nico Nolen, Eugen Pfister, Angela Schwarz oder Tobias Winnerling. Beigetragen haben aber auch Personen aus themennahen Bereichen wie die Journalistin Lara Keilbart oder der Spieleentwickler Jörg Friedrich.
Im ersten Abschnitt "History as Told by the Game" setzen sich die Autorinnen und Autoren größtenteils unter allgemeiner gehaltenen Fragestellungen mit dem Medium des digitalen Spiels auseinander. So macht etwa Angela Schwarz in ihrem Beitrag einen Kategorisierungsvorschlag, durch den sich die Verwendungsarten von historischen Inhalten grundsätzlich einteilen lassen. Eugen Pfister wiederum setzt sich mit dem Konzept des politischen Mythos auseinander und identifiziert beispielhaft verschiedene Ideologien in digitalen Spielen.
Für die Interaktionsmöglichkeiten, die digitale Spiele ihren Nutzerinnen und Nutzern bieten, interessiert sich Nico Nolden, deshalb geht er darauf ein, inwiefern Spielerinnen und Spieler durch ihr Handeln an der Schaffung von Geschichtsvorstellungen beteiligt sind: "From the perspective of players, possibilities to interact with the historically themed spaces have a huge impact on historical perceptions." (77) Darauf folgen Rüdiger Brandis Überlegungen zum Widerspruch zwischen der Interaktivität digitaler Spiele auf der einen Seite und deren Anspruch auf der anderen Seite, die Vergangenheit so darstellen zu wollen, wie sie vermeintlich wirklich gewesen ist.
Die Beiträge dieses ersten Abschnitts liefern zusammengefasst keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse, da die meisten der präsentierten Überlegungen und Theorien so oder so ähnlich bereits an anderer Stelle diskutiert wurden, teilweise sogar von den jeweiligen Autorinnen und Autoren selbst. Verstanden als eine erweiterte Einführung des Sammelbandes erfüllen die Aufsätze aber nicht nur für mit der Thematik weniger vertraute Leserinnen und Leser durchaus ihren Zweck.
Im zweiten Abschnitt des Sammelbandes - "Authenticity in and of History" - steht dann das Hauptthema des Buches im Zentrum des Interesses. Angela Schwarz, die zweimal im Sammelband vertreten ist, arbeitet hier vier Faktoren heraus, durch die Entwicklerinnen und Entwickler die historischen Inhalte ihrer digitalen Spiele als authentisch darstellen: audio-visuelle Elemente, historische Fakten und Daten, zeitgenössische (Geschichts-) Expertinnen und Experten verschiedener Art und fiktive, aber für Spielerinnen und Spieler der Gegenwart glaubwürdige Charaktere. Vor allem beim ersten Punkt zielen digitale Spiele darauf ab, dass die Spielerinnen und Spieler die historischen Inhalte wiedererkennen und das Dargestellte dadurch als authentisch wahrnehmen. Angela Schwarz verbindet in diesem Modell einige bereits bekannte Überlegungen miteinander und bringt sie übersichtlich auf den Punkt. Sie gibt damit Antworten auf eine der Kernfragen in diesem Themenbereich, wie historische digitale Spiele überhaupt Authentizität zu erreichen versuchen.
Die drei anderen Beiträge des zweiten Sammelbandabschnitts fokussieren demgegenüber spezielle Themenbereiche und ziehen Verbindungslinien zur historischen Authentizität. Andrew B. R. Elliott und Mike Horswell etwa tun dies anhand ikonischer Tropen mit Bezug zu den Kreuzzügen, die nicht nur, aber auch in digitalen Spielen vorhanden sind, beispielsweise der mit rotem Kreuz auf weißem Grund versehene Kreuzritter. Andra Ivănescu nimmt die Mixtapes im Spiel "Metal Gear Solid V: The Phantom Pain" (2015) in den Blick und stellt fest, dass diese auf einer gegenständlichen, einer kulturellen und einer personellen Ebene Authentizität suggerieren. Zuletzt untersucht Lara Keilbart queere Authentizität in digitalen Spielen und macht deutlich, wie authentische queere Repräsentationen auch heute noch im Vergleich zu stereotypen Klischeedarstellungen eine Seltenheit sind.
Durch die Zusammenstellung der Beiträge in diesem Abschnitt des Sammelbandes wird ersichtlich, dass sich die Authentizität einer historischen Darstellung in digitalen Spielen stets aus verschiedenen Elementen zusammensetzt. Erst wenn diese Elemente zusammenwirken, entscheidet sich, ob eine Vergangenheitsdarstellung von den Spielerinnen und Spielern letztlich als authentisch wahrgenommen wird. Um diesen Prozess zu verstehen, sind deshalb kleinteilige Analysen entsprechender digitaler Spiele notwendig. Die Beitragenden im vorliegenden Sammelband bieten hierfür eindrückliche Beispiele.
Der dritte und letzte Thementeil ("The Politics of Authenticity") behandelt verstärkt die Wirkungen von authentischen Geschichtserfahrungen in digitalen Spielen und wie verschiedene Akteurinnen und Akteure auf solche reagieren. Aurelia Brandenburg nimmt beispielsweise die Spielerinnen und Spieler in den Blick und untersucht Kommentare in Online-Foren zur Mittelalterdarstellung in "The Witcher 3: Wild Hunt" (2015). Sie konzentriert sich dabei explizit auf Beiträge, die sich auf Rassismus- und Sexismusdebatten rund um das Spiel beziehen.
Auch Tobias Winnerling beschäftigt sich mit Diskursen rund um das Medium. In seinem Beitrag hinterfragt er, warum die Spiele der "Anno"-Serie (seit 1998) bisher nicht unter dem Aspekt der darin transportierten kolonialistischen Vorstellungen diskutiert wurden, sondern vor allem mit Blick darauf, ob die wirtschaftlichen Prozesse akkurat dargestellt sind. Angus A. A. Mol wiederum stellt das Projekt "RoMeincraft" vor, in welchem Teilnehmende im Spiel "Minecraft" (2011) den römischen Limes auf dem Gebiet der heutigen Niederlande nachbauen können. Hierbei ist etwa kontrafaktisches, also vom aktuellen historiographischen Wissensstand abweichendes, Bauen explizit erlaubt. Dies soll Erkenntnisse dahingegen liefern, inwiefern die Vergangenheit von den Spielerinnen und Spielern rezipiert wird, wenn sie sich so frei wie möglich in der digitalen Welt entfalten können.
Im letzten Beitrag des Sammelbandes berichtet Jörg Friedrich, wie unter anderem der Brexit und die Wahl Donald Trumps ihn und seinen Kollegen Sebastian St. Schulz 2016 dazu veranlassten, "Through the Darkest of Times" (2020) zu entwickeln, ein Spiel zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Eine wichtige Motivation für die beiden Spieleentwickler war der sehr fragwürdige Umgang mit dieser historischen Epoche in digitalen Spielen. Jörg Friedrich macht in seinem Beitrag deshalb Vorschläge für eine durchdachtere Gestaltung entsprechender digitaler Spiele etwa die Reduzierung der Agency der Spielerinnen und Spieler in entscheidenden Situationen. Allerdings verwundert dabei sein Anspruch an digitale Spiele, dass diese "finally [must] tell things the way they happened." (268) Er bezieht sich hier zwar vor allem darauf, essenzielle Elemente wie Verfolgung und Völkermord bei der Darstellung des Nationalsozialismus nicht einfach auszublenden, allerdings ist das Verständnis von digitalen Spielen als einem Medium, das historische Wahrheit wiedergeben kann, ein überholtes.
Der letzte Abschnitt des Sammelbandes macht deutlich, dass die Auseinandersetzung mit Vergangenheitsvorstellungen in digitalen Spielen sich gar nicht notwendigerweise auf die Spiele selbst als Untersuchungsobjekt beschränken muss. Untersuchungen zu Diskursen rund um die historischen Inhalte oder zur Verwendung und Rezeption versprechen ebenso interessante Erkenntnisse wie die Analyse der Spiele selbst. Denn auch solche Arbeiten liefern wichtige Teilantworten für ein besseres Verständnis des Mediums des historischen digitalen Spiels und dessen Authentizitätskonstruktion.
Als Gesamtwerk führt "History in Games. Contingencies of an Authentic Past" alle derzeit diskutierten Aspekte des Themas Authentizität von historischen Inhalten in digitalen Spielen übersichtlich zusammen. Dazu gehört etwa die Erkenntnis, dass Authentizität stets individuell wahrgenommen wird und maßgeblich von bereits vorhandenen Vorstellungen abhängt. Sie ist dabei nicht gleichzusetzen mit historischer Akkuratesse. Künftige Fragestellungen, für die der vorliegende Sammelband sicherlich die eine oder andere Inspirationsquelle sein dürfte, sollten sich entsprechend ausrichten.
Ulli Engst