Rezension über:

Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Kultur der 1920er und 30er Jahre, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2021, VI + 277 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-7705-6616-7, EUR 79,00
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Rezension von:
Wolfgang Mühl-Benninghaus
Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Mühl-Benninghaus: Rezension von: Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort. Das Radio in der sowjetischen Kultur der 1920er und 30er Jahre, Paderborn: Brill / Wilhelm Fink 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 12 [15.12.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/12/35964.html


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Jurij Murašov: Das elektrifizierte Wort

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Das Diktum McLuhans, dass der Inhalt eines Mediums stets Inhalte eines anderen übernimmt, sich aber zugleich von ihm unterscheidet, bildet eine Grundlage für das komplexe Verständnis von Medien, das die Grundlage für die vorliegende Monografie bildet. Der inhaltliche Zugriff auf Medien bedeutet in diesem Verständnis stets, den Kontext ihrer technischen Komplexität einzubinden, da die Inhalte immer an die Form ihrer Vermittlung gebunden sind. Inhalt und Form sind demnach stets zusammen zu denken. Da Medien in diesem Verständnis von McLuhan Schnittstellen bzw. Interfaces zwischen Technologien auf der einen und Körpern auf der anderen Seite sind, beeinflussen sie die Wahrnehmung und damit auch die soziale Sphäre. In einer radikaleren medienwissenschaftlichen Auslegung präformiert die Technik mittels ihrer Inhalte das Zusammenleben der Menschen. Medien besitzen demnach eine prägende Kraft für die Formation soziokultureller und ästhetischer Praktiken. Von daher besitzt auch jede Epoche und Kultur eigene Wahrnehmungsformen. Diese theoretischen Ansätze erweitert bzw. spezifiziert Murašov mit der von Régis Debray entwickelten, aber in Deutschland noch kaum angewandten Mediologie. Diese beschäftigt sich mit der Medialität der verschiedenen Vermittlungsformen von Kultur. Die Mediologie konzentriert sich vor allem auf den Zusammenhang von Medientechnik, Medienorganisation und Medienästhetik und somit auch auf die jeweils mediale Wirkungskraft. Für die vorliegende Publikation bedeutet dies, so die grundlegende These, dass das Radio "Ausdruck und Symbol für die ideologische Macht, Energie und Wahrhaftigkeit der bolschewistischen Idee" ist, "es fungierte bis zum Ende der Sowjetzeit in der Revolutionsgeschichte als zentrales Fortschrittsmotiv" (16).

Den Beweis dieser These führt der Autor in fünf Teilen seines reich bebilderten Buches, denen eine kurze Einleitung vorangestellt ist. Diese erläutert einige Schlagworte zum Verhältnis von Elektrizität und Buchkultur und entwickelt Thesen zum Aufbau der Publikation. Deren erstes Kapitel beginnt mit Lenins Forderungen zur Entwicklung der Radiotechnik nach dem Sturz der Kerenskij-Regierung. Ausführlich zeichnet der Autor unterschiedliche Aspekte der sich entwickelnden Radiokultur im nachrevolutionären Russland nach. Diese reichen von ihrem Beitrag zur Alphabetisierung des Landes bis zu Majakovskijs Antennenkörper, die dieser in seinem Gedicht "Die fünfte Internationale" beschreibt. Diese weltanschauliche-utopische Vision eines Körpers überwindet alle räumlichen Bindungen und Differenzierungen innerhalb der zukünftigen Gesellschaft. Im Weiteren arbeitet er an verschiedenen Einzelfällen die Kennzeichen der sich unter Stalin herausbildenden radiophonen Massenkultur des sozialistischen Realismus heraus und zeigt, wie Radiomotive im zeitgenössischen Film als Ensemble der Macht eingesetzt werden. Ausführlich wird dargestellt, wie sich durch das Radio die oral geprägte Kommunikationskultur in Mittelasien veränderte. Dieser Abschnitt gehört zu den besonders spannenden Ausführungen, denn vergleichbare Beschreibungen über die Einwirkungen elektronischer Medien auf orale Kulturen liegen bisher nur sehr vereinzelt vor.

Mit mehreren markanten Modellen aus der sowjetischen Wissenschaft der 1920er und 1930er Jahre - wie Nikolaj Marrs materialistischer Linguistik, Andrej Vyšinskijs Entgrenzung des Rechtsbegriffs, Pavlovs Mechanik der menschlichen (Kollektiv-)Seele und Lysenkos Agrarkulturen -, die unter dem Titel "Wortgläubige Anschaulichkeit und massenmediale Laiendiskurse" behandelt werden, endet die mediologische Untersuchung zu Einflüssen des Radios auf die sowjetische Gesellschaft zwischen dem Ende der Oktoberrevolution und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs. In einem fünften Kapitel stellt der Autor anhand von vier überwiegend aus dem westlichen Kulturraum stammenden Beispielen dar, dass sich das mit dem Radio verbindende utopische Bewusstsein nicht nur auf die Sowjetunion beziehen lässt, sondern dass dieses Medium auch die Kunst und das Denken in Westeuropa und den USA beeinflusste.

Vor allem für den in der Traditionslinie der Philologien stehenden Medienhistoriker öffnet sich ein sehr breiter Fundus an literarischen Texten, die den Zusammenhang zwischen Radio und der sich entwickelnden sowjetischen Kultur beleuchten. Hervorzuheben ist, dass die weit überwiegende Mehrheit der im Buch zitierten Texte nicht nur in deutscher Übersetzung, sondern auch im russischen Original abgedruckt sind. Dieses Verfahren erleichtert das Verstehen des Inhalts trotz der insgesamt sehr guten Übersetzungen.

Vor allem drei Fragen bleiben nach dem Lesen offen. Zum einen ist nicht ersichtlich, ab wann der Autor das Radio in der Sowjetunion als ein Massenmedium ansieht. Das Verständnis vom Rundfunk ist in diesem Kontext dahingehend zu erweitern, dass das Radio nicht nur der Apparat ist, wie wir ihn aus West- und Mitteleuropa kennen, sondern auch Lautsprecheranlagen unter diesem Begriff firmierten, die ganze Ortschaften beschallten. Insbesondere in den 1930er Jahren wurde jede Sendung vom zuvor zensierten Blatt abgelesen. Inwiefern kann man, und dies wäre der zweite Punkt, unter diesen Bedingungen von einer "Poetik des Akusmatischen" sprechen? Dies gilt insbesondere für Texte, die eins zu eins von der Presse übernommen wurden und offensichtlich ganze Programmschienen füllten. Schließlich bleibt, drittens, der Auslandsrundfunk in der Monografie völlig unberücksichtigt. Dies ist insofern erstaunlich, als dieser bereits 1929 zu senden begann und ihm im Konzept der bolschewistischen Weltrevolution eine erhebliche Bedeutung beigemessen wurde.

Trotz der offenen Fragen liegt zweifellos eine sehr interessante Untersuchung vor, die einen neuen Blick auf die sowjetische Radiokultur im weiteren Sinne wirft und zugleich Anschlüsse an westeuropäische Kulturen aufzeigt. Darüber hinaus ist das Buch ein weiterer wichtiger Beitrag zur mediologischen Forschung in Deutschland.

Wolfgang Mühl-Benninghaus