Rezension über:

Christian Werkmeister: Jugendkultur im "punkigsten Land der Welt". Inoffizielle Musikszenen und staatliche Kulturpolitik in der späten Sowjetunion, 1975-1991 (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte; Bd. 88), Wiesbaden: Harrassowitz 2020, X + 331 S., ISBN 978-3-447-11402-8, EUR 48,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Rüdiger Ritter
Freie Universität, Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Rüdiger Ritter: Rezension von: Christian Werkmeister: Jugendkultur im "punkigsten Land der Welt". Inoffizielle Musikszenen und staatliche Kulturpolitik in der späten Sowjetunion, 1975-1991, Wiesbaden: Harrassowitz 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/03/35777.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Christian Werkmeister: Jugendkultur im "punkigsten Land der Welt"

Textgröße: A A A

Dass es in einem sozialistischen Staat überhaupt etwa so Freies und Ungebundenes wie Rockmusik, Punk etc. geben kann, war seit den Zeiten des Kalten Krieges immer schon ein Faszinosum für westliche Beobachter. Dabei bestimmte die Perspektive auf die Sowjetunion immer auch die Urteile, die man über die Funktion der Musik bildete. Im Kalten Krieg galt die Sowjetunion in der westlichen Öffentlichkeit als knebelnder Unterdrückerstaat, und Punk wurde in diesem Land - wenn überhaupt im Ausland wahrgenommen - unweigerlich als Ventil aufgefasst, mit dessen Hilfe die Bevölkerung den Druck ablassen konnte. Erst jüngere Forschungen betonen den Charakter der Sowjetunion nicht so sehr als Unterdrückerstaat, sondern beschreiben die sowjetische Gesellschaft als Ort beständiger Aushandlungsprozesse zwischen einer fordernden Kulturpolitik einerseits und gesellschaftlichen Erfordernissen andererseits. Dieses Beschreibungsmuster wurde bald auch auf die Musik, und zwar sowohl auf die "ernste" Kunstmusik als auch auf alle Formen der sogenannten Populärmusik wie etwa Jazz, Rock oder Pop angewandt. Die Arbeit von Werkmeister reiht sich in diesen Forschungsstrang ein.

Wie bei vielen historiographischen Arbeiten zum Themengebiet steht auch hier nicht die Musik selbst, sondern ihre gesellschaftliche Funktion im Mittelpunkt. Das ist bereits an der Kapiteleinteilung zu erkennen, die nicht nach musikalischen Phänomenen oder stilistischen Erscheinungsformen, sondern nach politischen Abschnitten geordnet ist. Das suggeriert, die Amtszeiten der jeweils amtierenden Generalsekretäre seien zugleich Phasen der sowjetischen Punkgeschichte. So ist das erste Hauptkapitel überschrieben: "Brežnev: Duldung und Gewöhnung", das folgende Kapitel "Andropov und Černenko: Ein Ende der Uneindeutigkeiten", und die Amtszeit Gorbačevs wird in zwei Kapitel mit der Behandlung des Zeitraums 1985 bis 1987 und 1987 bis 1991 aufgeteilt. Wie Christian Werkmeister in seiner Einleitung ausführt, markieren diese Zeiträume seiner Ansicht nach Wendepunkte, die auch die Musikszene vor neue Aufgaben stellten. Eine der spannendsten Fragen der sowjetischen Musikgeschichte ist damit bereits implizit beantwortet, nämlich diejenige nach dem Verhältnis zwischen staatlicher Kulturpolitik und der Entfaltung der inoffiziellen Musikszenen.

Wenn die sowjetische Gesellschaft tatsächlich ein Ort fortwährender Aushandlungsprozesse war, wie auch der Autor einleitend herausstellt (3), dann waren notwendigerweise nicht nur die Kulturpolitiker, sondern auch die inoffiziellen Mitglieder der Musikszenen Akteure mit eigener Handlungsmacht. Reagierten die Musikszenen tatsächlich nur auf staatliche Vorgaben oder stellten sie eine politische Kraft dar, die sowjetische Kulturpolitiker zum Reagieren zwang? Dabei muss es ja keineswegs, wie Werkmeister zutreffend beschreibt, immer um den Aufruf zum Umsturz gehen - auch das letztlich ein Gedanke westlicher Kalter Krieger. Die Provokation des sowjetischen Establishments mit seinen in die Jahre gekommenen Institutionen, denen zwar der ideologische Eifer der Anfangszeit fehlte, die aber immer noch Reibungsflächen boten, konnte durchaus eine Herausforderung für die staatlichen Kulturpolitiker sein. Der Autor stellt heraus, wie groß das Bemühen der staatlichen Kulturpolitik, aber auch der Szene war, sich miteinander zu arrangieren und auf Provokationen bzw. Restriktionen flexibel zu reagieren. Offensichtlich, so legen es seine Ausführungen nahe, war in der späten Sowjetunion im Laufe der Jahrzehnte ein Spielraum entstanden, auf dem sich die Akteure relativ frei bewegen konnten, wenn sie bestimmte Regeln und Grenzen nicht überschritten - und da die Bereitschaft dazu auf beiden Seiten groß war, blieb dieses System stabil.

Auch auf dem Gebiet der Jugendkultur und der Musikpolitik wird deutlich, wie sehr die Reformen Gorbačevs das Ende des sowjetischen Kosmos einleiteten. Die Zwangssymbiose zwischen Szene und Kulturpolitik hatte sich aufgelöst, und die Szenen mussten sich nunmehr ohne den sowjetischen Kokon behaupten, der, wie sich nun herausstellte, sowohl Behinderung als auch Schutz bedeutet hatte. Erwartungshaltungen, nun schnell als bedeutendes Element in die Weltgemeinschaft aufgenommen zu werden, wurden enttäuscht. Das zeigt einmal mehr, welch gut aufeinander eingespieltes System Szenemitglieder und Kulturpolitiker in der späten Sowjetunion ausgebildet hatten - vielleicht die wichtigste Erkenntnis dieser Untersuchung.

Zwar fokussierten sich die politischen Prozesse in der Sowjetunion vielfach auf Moskau und Leningrad, die Praxis dieses Staates ist aber ohne die Peripherie nicht zu begreifen. Auch zwischen Peripherie und Zentrum fanden beständige Aushandlungsprozesse statt. Auf dem Gebiet der Populärmusik kommt hinzu, dass sich wesentliche musikalische Entwicklungen oft nicht im Zentrum, sondern in entlegenen Provinzgegenden abspielten. Bei der Rockmusik ist da an die wichtige Rolle des aserbaidschanischen Baku zu denken, etwas früher, beim sowjetischen Jazz, an Städte wie Novosibirsk oder Akademgorodok.

Werkmeister bezieht immerhin die Hauptstadt der Litauischen Sowjetrepublik Vilnius in seine Untersuchung mit ein. Tatsächlich lässt sich dort deutlich machen, wie gerade das Baltikum in seiner Funktion als Einfallstor für westliche Musikeinflüsse auch für die Kulturpolitiker der Zentrale eine maßgebliche Rolle hatte. Sowjetische Musikkulturpolitik erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als Aushandlungsprozess zwischen Kulturpolitikern und Szenemitgliedern, sondern zwischen Vertretern des Zentrums und der Peripherie.

So wird der Doppelcharakter der Szene in Vilnius deutlich: Auf der einen Seite lieferte sie der sowjetischen Musikszene einen Innovationsschub, auf der anderen Seite galt sie Kulturpolitikern als herrschaftspolitische Gefahr. Hier liegt allerdings eine Schwäche des Buches. Die Berufung des Autors vornehmlich auf sowjetische Geheimberichte zu Litauen verengt die Betrachtung, denn KGB-Berichterstatter mussten naturgemäß Abweichendes als Gefahr darstellen und möglichst drastische Quellen verwenden. Wenn der Autor also KGB-Berichte zitiert, die von der Verwendung der Hakenkreuz-Symbolik in Litauen berichten (135), so ist dieser Bericht nicht repräsentativ für die litauischen Entwicklungen in der Musik oder der Jugendkultur, sondern es handelt sich hier um eine vom KGB geschärfte Darstellung. Durch diese Fokussierung auf die KGB-Berichterstattung entsteht der Eindruck, dass es eine "allgemeine" sowjetische Musik- und Musikkulturpolitik gebe, von der das Baltikum aus "nationalistischen" (der Begriff ist zumindest unglücklich gewählt) Motiven abweiche.

Die tatsächliche, zentrale Stellung von Vilnius innerhalb der Musikkultur der Sowjetunion wird aber erst dann verständlich, wenn man Vilnius nicht nur durch die russische Brille als Einfallstor aus dem Westen mit potenziellem Abweichlertum auffasst, sondern die innerlitauische Spannung zwischen einer nach wie vor lebendigen Nationalkultur und sowjetischen Überformungen mit einbezieht und den spannungsreichen Dialog der Führung der litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik mit der Moskauer Zentrale als Aushandlungsprozess untersucht. Die Aufgabe wird hier nicht geleistet, erscheint aber auch nach der Lektüre des ansonsten vorzüglichen Buchs als eine Notwendigkeit.

Rüdiger Ritter