Ringo Müller: »Feindliche Ausländer« im Deutschen Reich während des Ersten Weltkrieges, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021, 770 S., 2 s/w-Abb., 15 Tbl., ISBN 978-3-525-36767-4, EUR 70,00
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Auf dieses Buch konnte man sehr gespannt sein, denn eine systematische Untersuchung des Themas "Feindliche Ausländer" während des Ersten Weltkrieges stand trotz einiger Vorarbeiten (Ulrich Herbert, Kai Rawe, Daniela Caglioti, Christoph Jahr) aus. Zumeist haben sich die Untersuchungen auf die feindlichen Kriegsgefangenen in Deutschland konzentriert, vor allem in den großen Studien von Uta Hinz und Heather Jones.
Ringo Müller hat sich für dieses Buch (das aus seiner Erfurter Dissertation von 2017 hervorgegangen ist) die Untersuchung so ziemlich aller Teilaspekte dieses gewaltigen und wohl unerschöpflichen Themas vorgenommen. Herausgekommen sind nahezu 800 schön redigierte und gedruckte Seiten, aber zu großen Teilen auch schwer verdauliche Erkenntnisse. Die Schwierigkeiten beginnen damit, dass das Inhaltsverzeichnis alles andere als aufschlüsselnd ist. Müller wollte wohl etwas literarischer sein als Historiker das gemeinhin sind und hat deshalb Kapitel- und Unterkapitel-Überschriften gewählt, die oft einige Interpretationsanstrengung benötigen. So etwa bei Kap. 1 mit dem Titel "Archivieren und Historisieren", wo Untertitel wie "Beherrschen" oder "Hervorbringen" erscheinen. Lesefreundlich ist das nicht, und gerade bei einem so langen Text mit so vielen verschiedenen Themen wäre es doch zwingend, dem Leser Handreichungen zu bieten, wie dieser Wälzer gezielt genutzt werden kann.
Wenn man sich aber mutig und entschlossen in das Buch begibt, wird man auf den ersten ca. 60 Seiten reich entschädigt. Der Forschungsstand zum Thema, die nach Auffassung Müllers bislang nur "disparaten" Ergebnisse (62) werden klar entwickelt. Ab Seite 63 kommt er zur Sachdarstellung mit den bislang nicht bekannten Planungen für die Behandlung "feindlicher Ausländer" im Deutschen Reich vor 1914. Aus seiner Darstellung ergibt sich, dass es hier keine klaren bzw. einheitlichen Regelungen gab. Er schildert minutiös den ungeheuren Flickenteppich an Einzelmaßnahmen der verschiedenen Regierungen. Der wahrlich beeindruckende Schatz an Archivquellen, die er für die gesamte Arbeit von Flensburg bis München aufgetan hat, zeigt das in aller Deutlichkeit. Was aber in diesem Buch leider immer wieder fehlt, sind nachvollziehbare Folgerungen eben aus diesen Potpourri. Könnte man beispielsweise zu dem Ergebnis kommen, dass es in katholischen Regionen eine gemäßigtere Behandlung der "feindlichen Ausländer" gab als in protestantisch dominierten? Deutlich wird indessen, dass sich die zivile Reichsleitung insgesamt für eine großzügigere Behandlung dieser so disparaten Gruppe von Menschen (von polnischen oder russischen Landarbeitern bis hin zu britischen oder französischen Kulturträgern) im Kriegsfall aussprach, als die Militärs zuzugestehen bereit waren.
Ab etwa Seite 80 kommt Müller auf die "Spionitis" zu Kriegsbeginn zu sprechen, deren Facetten eigentlich aus der "Augustbegeisterungs"-Diskussion schon bekannt sind, die er aber mit der auch literarisch gelungenen Schilderung von unzähligen weiteren Episoden anreichert. Aber das Résumé bleibt vage: "Staatliche wie nichtstaatliche Akteure waren dazu angehalten, schnell und selbstsicher auf Verdachtsmomente zu reagieren. Situatives und improvisiertes Handeln war dementsprechend kein irreguläres Verhalten, sondern gehörte zu den in Grenzen kalkulierten Konsequenzen" (104). Ich habe Schwierigkeiten, solche Sätze zu verstehen.
Es folgt ein großes Kapitel zum Problem des Überwachens der Ausländer während des Krieges. Müller zeigt auch hier die gesamte Diversität des Verhaltens der deutschen Behörden von Nord bis Süd und von Ost nach West auf. Alles ist immer sehr einfühlsam und präzise geschildert, aber was man vielleicht generell zu diesem Problem aussagen könnte, dafür fehlt jede Auskunft, es sei denn, man begnügt sich mit der folgenden: "Die zuweilen vorgestellte Restlosigkeit der Überwachung und die eine Ordnung der Kontrolle feindlicher Staatsangehöriger gab es nicht, weil idealtypische Ausländer/innen nicht existierten und von Lokalverantwortlichen selten erwartet wurden" (166).
Ab Seite 169 wird dargestellt, wie versucht wurde, das anfängliche Chaos der Ausweisungsverfügungen in eine übergreifende Ordnung umzusetzen. Aber die folgenden 60 Seiten bringen wieder nur eine verwirrende Vielfalt von Einzelheiten, etwa ab Seite 185f, wo auf zwei Seiten nicht weniger als drei Städte abgehandelt werden, nämlich Konstanz, Hamburg und Bremen. Und wer genau erfahren will, was in Donaueschingen los war, sei auf die Seiten 197-223 verwiesen, wo die dortigen Verhältnisse en détail erzählt werden, bevor Müller übergangslos zu Kulmbach übergeht. Es geht leider nahezu die ersten 400 Seiten so detailliert-unsystematisch weiter - an "interessanten" Details fehlt es nicht! Spannend wurde es für mich wieder ab Seite 400, wo mit einem Unterkapitel "Gesuchte Begegnungen" eine kohärente Geschichte der Kriegsgefangenschaft in Deutschland präsentiert wird. Das folgt den Arbeiten von Hinz, Jones und Oltmer, bietet aber auch viele neue Gesichtspunkte zu diesem Thema.
Das Kapitel 8, ab Seite 507, wo es um "Internieren und Freilassen" geht, ist sehr lesenswert. Hier findet man eine schön erzählte und endlich einmal systematisierende Abhandlung über Verhaftungen bzw. Gefangennahme von feindlichen Ausländern, wobei sich das Hin und Her zwischen den beiden Verfahren in den kohärent dargestellten Variationen der diesbezüglichen Anordnungen und Durchführungsbestimmungen niederschlägt. Dabei wird auch gekonnt, mit einer Vielzahl von Belegen, das immer wieder vorscheinende Zusammenspiel von administrativen Maßnahmen und der Reaktion der Öffentlichkeit gezeigt. Aber auch umgekehrt hat es vielfach öffentlichen Druck auf die behördlichen Regeln gegeben. Anhand vieler Zeitungsberichte wird erklärt, was die Öffentlichkeit über die Zivilinternierten wusste bzw. erfahren konnte (625ff). Verdienstvoll auch die in diesem Zusammenhang geleistete Auswertung der Fotos aus den Lagern, etwa mit der riesigen Sammlung des Musée d'Orsay.
Insgesamt: Eine immense Forschungsleistung zu einem bislang kaum bekannten Thema. Aber leider ist dieses Werk zu großen Teilen doch nur der berüchtigte "Steinbruch", aus dem sich Jeder wertvolles Material herausschlagen kann - so er denn die Zeit und Muße dafür hat.
Gerd Krumeich