Anna Aurast: Fremde, Freunde, Feinde. Wahrnehmung und Bewertung von Fremden in den Chroniken des Gallus Anonymus und des Cosmas von Prag, Bochum: Verlag Dr. Dieter Winkler 2019, 337 S., ISBN 978-3-89911-274-0, EUR 67,60
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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"Das Wahrnehmen und Erleben von Fremden ist eine auf keine bestimmte Zeit oder Epoche beschränkte Erfahrung des Menschen" (15). So leitet Anna Aurast ihre als Dissertation bei Hans-Werner Goetz in Hamburg eingereichte Studie über die Fremdwahrnehmung zweier hochmittelalterlicher Chronisten, des sogenannten Gallus Anonymus und des Prager Domdechanten Cosmas von Prag, ein. Das vorliegende Buch ist eine für die Druckfassung gekürzte Version der Dissertationsschrift von 2015 mit dem Titel: "Gesichter des Fremden. Verschiedene Wir-Gruppen und ihre Abgrenzung von Fremden in den Chroniken des Gallus Anonymus und Cosmas von Prag".
Den Untersuchungsgegenstand dieser sorgfältig strukturierten Studie bilden zwei Chroniken, die Cronicae et gesta ducum sive principium Polonorum des Gallus sowie die Chronica Boemorum des Cosmas. Im Zentrum steht die Frage nach den Vorstellungen von Fremdheit und Fremden im Hochmittelalter. Konkret geht es um die Wahrnehmung und Bewertung von Fremden. Die Arbeit ordnet sich also in die immer größer werdende Anzahl von Beiträgen zur Geschichte hochmittelalterlicher Vorstellungen ein.
Die Beschäftigung mit Fremdheit im Allgemeinen wie mit Fremden (bzw. den Anderen) im Besonderen ist ein Themenfeld, das bereits seit mehr als zwei Jahrzehnten Konjunktur hat. Sich zunächst vorwiegend auf die Fremdwahrnehmungen des Spätmittelalters und der Neuzeit konzentrierend, wendet sich die Forschung seit geraumer Zeit immer stärker früheren Epochen zu. Auch die zuvor recht starre Fixierung auf den "weit Entfernten" und "Exotischen" beginnt sich aufzulösen, sodass nun verstärkt diejenigen Fremden in den Blick geraten, die ganz in der Nähe vorzufinden sind. Genau in dieses erweiterte Forschungsfeld stößt A. mit ihrer Studie vor. Sie konzentriert sich auf die unmittelbare Nachbarschaft zu den deutschen Ländern des Römischen Reiches und wendet sich der hochmittelalterlichen Wahrnehmung in der osteuropäischen Peripherie zu. Damit bewegt sie sich auf bislang wenig ausgetretenen Pfaden.
Dieser Umstand spiegelt sich auch in der Quellenauswahl wider. Bewusst lässt Aurast die bereits zur Genüge untersuchten Schriftzeugnisse aus dem römisch-deutschen Reich außer Acht und nimmt zwei historiografische Quellentexte in den Blick, die für einen komparatistischen Ansatz gut geeignet sind. Beiden ist eine nahezu identische Entstehungszeit zu attestieren (Anfang des 12. Jahrhunderts), und auch in ihrer Struktur und Intention lassen sich beide gut miteinander vergleichen. Die räumliche Nähe ermöglicht es darüber hinaus, auf den Grad der Ähnlichkeit in der Wahrnehmung von Fremden und Fremdheit der beiden Chronisten zu schließen.
Neben der Frage nach der Vorstellung und Wahrnehmung werden auch die Ursachen und Funktionen der Darstellung sowie die Bewertung von Fremden in den Blick genommen. Sich nicht nur für das Beschriebene interessierend, wendet sich die Verfasserin auch dem Schreibenden samt seinen mentalen Zuständen und kulturellen Bindungen zu. Die Erforschung der Vorstellungswelt des jeweiligen Quellenautors - seine Bilder, Eindrücke, subjektiven Empfindungen, Meinungen und (Vor)urteile - ist dafür essenziell. Dazu gilt es, wie Aurast in der Einleitung betont, "zum einen, den historischen Kontext und die (Abgrenzungs-)Absichten der mittelalterlichen Verfasser genau zu bestimmen und dann die identitätsstiftenden Mechanismen der Abgrenzung von Fremden und Anderen im Text zu erkennen und zu analysieren, und zum anderen, weitere Funktionen der Fremdenbilder in den Werken der Chronisten vor demselben Hintergrund zu orten und zu deuten" (18).
Bevor die beiden Chroniken miteinander verglichen werden, leistet Aurast noch die nötige theoretische Vorarbeit. Ihr Hauptanliegen ist es, Fremdheit in einer Weise zu definieren, die unseren heutigen Fremdheitsbegriff adäquat widerspiegelt und eine differenzierte Untersuchung des bzw. der Fremden zulässt. In Ermangelung theoretischer Modelle zum Thema "Fremde und Fremdheit" unternimmt sie den Versuch, den theoretischen Rahmen für eine systematische Untersuchung von Fremden und Fremdwahrnehmungen in mittelalterlichen Quellen selbst abzustecken. Sie geht dabei in zwei Schritten vor. Mit dem Rekurs auf die bisherigen Forschungen zu diesem Themenkomplex versucht sie den Begriff des Fremdseins zu präzisieren. Es werden vier Bedeutungen von "fremd" (erstens als "nicht zu der eigenen Gruppe gehörend"; zweitens als "jemandem gehörend, der fremd ist"; drittens als "unbekannt/unvertraut"; viertens als "unverständlich, unerklärlich", Seite 28) und sechs Dimensionen des Fremdseins (räumlich/zeitlich; ethnisch/politisch; religiös; kulturell; sprachlich; gesellschaftlich-institutionell) unterschieden. Ferner erläutert Aurast - unter Rückgriff auf Überlegungen aus anderen Wissenschaftsdisziplinen -, wie unser moderner Begriff von "fremd" für eine Untersuchung von Fremdwahrnehmungen mittelalterlicher Autoren und deren Schriften genutzt werden kann. Von dieser methodischen Ausrichtung verspricht sich die Autorin, Fremdheitsphänomene in mittelalterlichen Werken aufspüren und untersuchen zu können, die sich allein mit Hilfe der Begriffsgeschichte nicht hinreichend erforschen lassen. Die Denk-, Verständnis- und Mentalitätsstrukturen der Autoren, die sich in den Chroniken manifestieren, werden auf diese Weise sichtbar. Auch wenn dadurch eine genaue Kontextuntersuchung mehr Gewicht erhält, wird der Rückgriff auf die begriffsgeschichtliche Methode nicht obsolet. Deutlich wird dies allein schon daran, dass hier ausschließlich schriftliche Quellen die Überlieferungsgrundlage bilden.
Die Studie besteht aus vier Hauptkapiteln, die sich jeweils in zahlreiche Unterkapitel aufgliedern. Im ersten, einleitenden Kapitel werden der Forschungsstand, die theoretische Arbeitsgrundlage und Methode, die Textauswahl sowie die weitere Vorgehensweise erläutert. Sodann folgen die beiden Hauptteile der Studie, in denen die beiden Chronisten wie auch ihre Chroniken getrennt voneinander behandelt werden. Dabei werden beide dem gleichen Frageraster unterworfen, wodurch autorspezifische Wahrnehmungen von Fremden abgebildet werden und eine übersichtliche und systematische Analyse gewährleistet ist.
Beginnend mit Gallus, folgt nach der Vorstellung des Chronisten, seines Werkes sowie seiner Vorstellungswelt ein kurzer historischer Abriss. Dieser dient der Einführung in die Besonderheiten der jeweiligen Region, in der die Chronik entstanden ist. Im Anschluss an den historischen Überblick folgt, basierend auf dem abgesteckten theoretischen Rahmen, die eigentliche Analyse des Quellentextes. Eingeleitet wird die Analyse durch eine Herausarbeitung des "Eigenen" in dem Quellentext, da nur durch die Identifizierung einer "Wir-Gruppe" eine Untersuchung des Fremden erfolgen kann. Analog dazu wird in der Folge mit Cosmas und seiner Chronik verfahren. Mit dieser separaten Behandlung der Chronisten gelingt es Aurast, die für jeden der beiden Autoren spezifischen Wahrnehmungen zu erfassen.
Die Ergebnisse der beiden Hauptteile werden anschließend in einem vergleichenden und konzisen Fazit in Beziehung zueinander gestellt. Die Verfasserin stellt Ähnlichkeiten und Unterschiede in den jeweiligen Vorstellungen von Fremden fest und resümiert diese vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung. Dabei versäumt sie nicht, auch die Gründe für die Unterschiede (zum Beispiel Motivationen und Überzeugungen) in der Darstellung von Fremden in der jeweiligen Chronik aufzuführen.
Bilanzierend stellt Aurast fest, dass die überwiegende Mehrheit der Abgrenzungen von Fremden in den beiden Werken der Kategorie "nicht zu der eigenen Gruppe gehörend" zuzurechnen sind. Abgrenzungen in Bezug auf die drei übrigen Bedeutungen von "Fremde" sind hingegen nur selten vertreten.
In einem dem Anhang vorangestellten und außerhalb der Teilkapitel der Arbeit stehenden 13-seitigen "Appendix" beschreibt die Verfasserin abschließend noch einmal ihre methodischen Grundlagen und nimmt eine Einordnung ihres Vorgehens in die geschichtswissenschaftlichen Diskussionen vor.
Ein 20-seitiges Quellen- und Literaturverzeichnis rundet das Werk ab. Vergebens sucht der Leser hingegen nach irgendeiner Art von Register, das die Arbeit mit diesem ansonsten durchaus gelungenen Werk um einiges erleichtern würde.
Auch wenn beim Studium dieser Arbeit der Eindruck entsteht, dass sich die Verfasserin mit Gallus und seiner Chronik etwas besser auskennt als mit dem Prager Domdechanten, kann ihre Arbeit dennoch als wegweisend angesehen werden. Sich auf eine breite Forschungsliteratur stützend und mit einem durchaus ansprechenden theoretischen Modell operierend, das durch die Zuhilfenahme der begriffsgeschichtlichen Methode ergänzt wird, gelingt es ihr, das Phänomen der Fremdheit und der Abgrenzung in den beiden Chroniken plausibel aufzuzeigen. Auch werden die unterschiedlichen Formen der Identitätsbestimmung und -verankerung durch Abgrenzung und Nähe zu anderen Gruppen sichtbar. Die Verfasserin vermag dadurch einige Desiderate der Fremdheitsforschung ein Stück weit zu schließen und "einen wertvollen Beitrag zur Fremdheitsforschung generell zu leisten" (299).
Martin Koschny