Norbert Kersken / Stefan Tebruck (Hgg.): Interregna im mittelalterlichen Europa. Konkurrierende Kräfte in politischen Zwischenräumen (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung; 38), Marburg: Herder-Institut 2020, VII + 291 S., ISBN 978-3-87969-434-1, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
Eva-Marie Distler: Städtebünde im deutschen Spätmittelalter. Eine rechtshistorische Untersuchung zu Begriff, Verfassung und Funktion, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2006
Martin Lenz: Konsens und Dissens. Deutsche Königswahl (1273-1349) und zeitgenössische Geschichtsschreibung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002
Richard Huscroft: Tales from the Long Twelfth Century. The Rise and Fall of the Angevin Empire, New Haven / London: Yale University Press 2016
Norbert Kersken / Grischa Vercamer (Hgg.): Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik, Wiesbaden: Harrassowitz 2013
Hans-Jürgen Bömelburg / Norbert Kersken: Mehrsprachigkeit in Ostmitteleuropa (1400-1700). Kommunikative Praktiken und Verfahren in gemischtsprachigen Städten und Verbänden, Marburg: Herder-Institut 2020
Nikolaus Jaspert / Stefan Tebruck (Hgg.): Die Kreuzzugsbewegung im römisch-deutschen Reich (11.-13. Jahrhundert), Ostfildern: Thorbecke 2016
Der vorliegende Band hat sich das umfassende und ambitionierte Ziel gesetzt, Unterbrechungen königlicher, päpstlicher und auch bischöflicher Herrschaft im 12.-15. Jahrhundert vergleichend zu untersuchen und dabei neben den historischen Erscheinungsformen und Dynamiken auch die Brauchbarkeit des Begriffs "Interregnum" für die Analyse zu prüfen. Das Anliegen und die Perspektive verdienen Aufmerksamkeit. Nicht nur die aktuelle zeitgenössische Erfahrung sollte unser Interesse an Phasen schwacher oder - wie Thomas Zotz es in seinem einführenden Beitrag zu Interregna in Ostmitteleuropa insgesamt formuliert - prekärer Herrschaft befördern. Die Vorliebe, die die historische Forschung über lange Zeit für vermeintlich starke Herrscherfiguren gezeigt hat, findet sich ja auch schon in den Rückblicken zeitgenössischer Chronisten auf die Ereignisse des hohen und späten Mittelalters. Ein Perspektivenwechsel eröffnet durchaus neue Forschungsfelder. Die vorliegenden Beiträge wurden auf einer einschlägigen Tagung zur Ostmitteleuropaforschung vorgetragen, und die Organisatoren und Herausgeber hatten bei der Planung eine mögliche Typisierung verschiedener europäischer Interregna im Sinn, um "strukturelle Elemente dieser herrscherlosen Zwischenräume" (10) in vergleichender Analyse herauszuarbeiten. Dafür haben die Herausgeber einen Katalog von sieben Fragen formuliert, zusammengefasst unter den drei Stichworten "Akteure", "Praktiken", "Wahrnehmungen".
Die Einleitung formuliert die Erwartung, dass die Beiträge diesen Fragen für jede Interregnumskonstellation einzeln nachgehen. Man ahnt, dass es schwierig sein könnte, dies umzusetzen. Die Beiträge umfassen ein weites Spektrum: das Königtum Wilhelms von Holland (Ingrid Würth), das österreichische Interregnum (Roman Zehetmayer) und einen Dynastiewechsel in Pommerellen (Norbert Kersken) im 13. Jahrhundert, die brandenburgische Herrschervakanz (Mario Müller), den Dynastiewechsel in Böhmen (Martin Wihoda) und Ungarn (Julia Burkhardt) im frühen 14. Jahrhundert, die kurzen Interregna im Vorfeld und Umfeld des Hundertjährigen Krieges in Frankreich (Gisela Naegle), das Königreich Polen in zwei Herrschaftskrisen: am Ende des 14. Jahrhundert (1370-1382: Andrzej Marzec) und in der Mitte des 15. Jahrhundert (1444-1447: Paul Srodecki) sowie ein vergleichender Blick auf geistliche Sedisvakanzen im Papsttum des 13. und 14. Jahrhunderts (Andreas Fischer) und in der Diözese Würzburg 1122/26-1128 (Stefan Petersen). Ausdrücklich halten die Herausgeber fest, dass sie mit der Auswahl keine Vollständigkeit anstreben, und das wird man jedem, der sich auf das Wagnis vergleichender Untersuchungen einlässt, auch zugestehen.
Wenn man an sehr unterschiedliche Untersuchungsfelder eine Reihe von Fragen richtet, dann ist es kaum zu vermeiden, dass die Ergebnisse mit einem Blick nur schwer zu erfassen sind. Die Expertinnen und Experten bieten gedrängte, kenntnisreiche Zusammenfassungen der jeweiligen Herrschaftskrisen oder -lücken. Einige Beiträge (besonders seien hier Naegle und Burkhardt genannt) verbinden mit einer klaren Darstellung die Entwicklung systematischer Fragestellungen, andere setzen im Grunde die Kenntnis des erörterten Geschehens voraus. Manche Beiträge (etwa Fischer) bauen auf einer breiten Forschungsbasis auf, andere zeigen sich der neueren Forschung gegenüber erstaunlich widerstandsfähig.
Sicherlich ist es sinnvoll, die eher klassische Vorstellung von einem machtlosen König des Interregnums wie Wilhelm von Holland einer kritischen Revision zu unterziehen, wie es Würth tut. Nicht jede Einschätzung einer stauferfreundlichen Königs- und Kaiserhistoriografie muss man fortschreiben. Aber wenn man sich stattdessen auf einen Wilhelm gegenüber freundlich gesinnten Chronisten stützt, andere kritischere, aber gut informierte Zeitgenossen oder auch Urkunden nicht heranzieht, dann entsteht zwar ein freundlicheres Bild dieses jungen Königs, aber eine Wirkungsgeschichte wird daraus nicht. Es gehörte auch dazu, erst einmal die Handlungsmöglichkeiten des zunächst nur mit starker päpstlicher Förderung auf den Thron gelangten Königs auszumessen, der nach dem Ende der Stauferherrschaft nicht lange genug am Leben blieb, um sich zu bewähren. So verbinden Naegele und Burkhardt ihre dichten Analysen mit systematischen Perspektiven, wenn etwa Burkhardt "Politik als einen Handlungsraum" ansieht, "in dem verschiedene Akteure um die Herstellung und Durchsetzung von Entscheidungen, aber auch um deren Kommunikation und Darstellung ringen" (155), oder wenn Naegle die Folgen der kleinen Interregna nach den Toden der französischen Könige als "Alternativen und mögliche Chancen" (152) politischer Entwicklung herausarbeitet und so der tatsächlichen Entwicklung ein deutlicheres Profil verleiht.
Eine solche Annäherung an die Geschichte von Herrschaftsunterbrechungen als ein Blick auf die roads not taken ist aus einer Vergleichsperspektive ergiebiger als eine dichte ereignisgeschichtliche Erzählung eines Herrschaftswechsels, der über so viele Eigenheiten verfügt, dass sich seine Geschichte nur sehr eingeschränkt übertragen oder vergleichen lässt. Marzec und Srodecki skizzieren die polnischen Herrschaftskrisen klar und verständlich, bieten aber in ihren Skizzen im Grunde nur wenige Anknüpfungspunkte für einen Vergleich, der über den Einzelfall hinausweist. Hier zeigt sich das Problem der Auswahl dieser Herrschaftszwischenräume. Sie ist zu wenig fokussiert. Die Vorgabe der Fragestellung reicht nicht aus, wenn statt einer Frage sieben Fragen gestellt werden. Es ist nicht überraschend, dass sich im Grunde nur ein Autor (Zehetmayer) dezidiert auf dieses Frageraster einlässt. So entsteht eine kenntnisreiche, jedoch weitgehend unverbundene Sammlung von Einzelpräsentationen, aber das Gesamtbild erhält keine Tiefenschärfe. Fischers Beitrag über die Sedisvakanzen an der päpstlichen Kurie arbeitet Strukturelemente im Wahlverfahren der Kardinäle heraus, die in den Zeiten ohne Papst wichtige Entscheidungen treffen mussten. Er akzentuiert, wie die Sedisvakanzen als Katalysatoren für die verbindliche Formulierung von Wahlverfahren wirkten und dabei ein "reduktionistischer Zug" (237) bei der Auswahl der Wähler erkennbar wird.
In diesem Zusammenhang würde sich eine vergleichende Diskussion mit dem fast gleichzeitig bestehenden deutschen Interregnum durchaus anbieten, wo sich bei den Kurfürsten ähnliche Tendenzen abzeichneten. Dazu kommt es in dem vorliegenden Band jedoch nicht, weil die Beobachtungen hinter der Fülle der Einzelfälle zurücktreten (die Diskussion der Tagung ist nicht dokumentiert). Entsprechend bietet auch die Zusammenfassung eher eine knappe Nacherzählung als eine Konturierung neuer Perspektiven. Anderes ist auch angesichts des Spektrums der Beiträge kaum möglich. Hier wäre eine gewisse Typisierung und Fokussierung der Herrschaftszwischenräume bereits vor dem Vergleich sinnvoll gewesen. Nicht aus jedem Zwischenraum lässt sich ein großes Haus erbau(e)n.
Martin Kaufhold