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Stephan Conermann: Neuere Forschungen zur Sklaverei und zu anderen Formen starker asymmetrischer Abhängigkeit V: Gefangenschaft und Piraterie. Einführung, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 3 [15.03.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
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Neuere Forschungen zur Sklaverei und zu anderen Formen starker asymmetrischer Abhängigkeit V: Gefangenschaft und Piraterie

Einführung

Von Stephan Conermann

Erneut geht es um Sklaverei und andere Formen starker asymmetrischer Abhängigkeit. Im Mittelpunkt stehen diesmal die beiden - oftmals miteinander verknüpften - Phänomene "Gefangenschaft" und "Piraterie". Angeregt wurde das FORUM durch meine Lektüre einiger Publikationen, die im Rahmen des vom Österreichischen Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) für vier Jahre geförderten Projekts "European Slaves: Christians in African Pirate Encounters. Barbary Coast Captivity Narratives (1550-1780) - ESCAPE" erschienen sind. Zentraler Gegenstand des Vorhabens sind bis dato nur ansatzweise erforschte deutsch- und englischsprachige frühneuzeitliche Berichte von Christen über ihre Zeit in muslimischer Gefangenschaft in Nordafrika. Insgesamt konnten wohl mehr etwa 130 solcher Texte identifiziert werden, obgleich sich leider nirgendwo eine Gesamtliste dieses spannenden Quellenkorpus findet.

Mario Klarer, der Projektleiter, der an der am Institut für Amerikastudien der Universität Innsbruck einen Lehrstuhl innehat, hat bisher eine Anthologie und zwei Sammelbände zu diesem Thema vorgelegt. Die Übersetzung von Ausschnitten aus sechs deutschsprachigen Gefangenenberichten bildet einen sehr guten Einstieg in die Thematik und vermittelt eine direkte Einsicht in die Quellen. (Siehe die Rezension zu Klarer, Verschleppt). Die beiden Sammelbände gehören zusammen. Bietet der eine eher historisch orientierte Aufsätze, so findet man in dem anderen in erster Linie literaturwissenschaftliche Beiträge. (Siehe die Rezensionen zu Klarer, Piracy and Captivity und Klarer, Mediterranean Slavery and World Literature). Neben dem FWF-Projekt konnte Mario Klarer für die Jubiläumsausstellung "Piraten und Sklaven im Mittelmeer" anlässlich der Feier zum 350. Geburtstag der Universität Innsbruck auf Schloss Ambras weitere Fördermittel einwerben. Mit diesen vom Österreichischen Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft bereitgestellten Geldern war es ihm möglich, Schüler*innen in die Vorbereitung der Ausstellung integrieren. Das Ergebnis liegt unter anderem in Form eines sehr informativen Katalogs und Begleitbandes vor. (Siehe die Rezension zu Haag / Klarer / Sandbichler, Piraten und Sklaven). Im Umfeld des ESCAPE-Projektes ist auch Robert Spindlers 2020 in überarbeiteter Fassung publizierte Promotionsschrift aus dem Jahre 2016 entstanden. (Siehe die Besprechung von Spindler, Corsairs)

Piraterie, Gefangenschaft und Sklaverei stellen einen wichtigen Teil des interkulturell vernetzten frühneuzeitlichen Wirtschaftssystems dar, in das auf muslimischer wie auf christlicher Seite zahlreiche Akteure involviert waren. [1] Diesen gemeinsamen Kommunikationsraum betont auch Daniel Hershenzon am Beispiel entsprechender Aktivitäten in und um Spanien in dem Zeitraum von ca. 1580 bis 1620. Auch wenn die Interaktionen der verschiedenen Akteure im Einzelfall durchaus kompliziert sein konnten, lieferten die freigelassenen und/losgekauften Personen den jeweiligen Machthabern vor allem auch wichtige politische, militärische und kulturelle Informationen über den Gegner. (Siehe die Rezension zu Hershenzon, The Captive Sea) Selbstzeugnisse von ehemaligen Gefangenen existieren selbstverständlich nicht nur im transkulturellen Bereich, sondern ebenso in intrakulturellen Zusammenhängen. Einen Vergleich dieser am Ende doch sehr unterschiedlichen Erfahrungshorizonte wagt Mirjam Reitmayer. Sie stellt 14 Berichte über Gefangenschaften, die sich aus inneren Konflikten westeuropäischer Mächte ergeben haben, sechs Texte gegenüber, die von Männern verfasst wurden, die entweder von Muslimen oder (in einem Fall) von einem indigen brasilianischen Stamm verschleppt wurden. (Siehe die Anmerkungen zu Reitmayer, Entführung und Gefangenschaft)

Ich hoffe wie immer, dass alle sehepunkte-Leser*innen dieses FORUM interessant und informativ finden.

Anmerkung:
[1] Über die muslimischen Broker wissen wir bedauerlicherweise nur wenig. Im christlichen Europe gab es sehr unterschiedliche Modelle. Blieben Loskaufverhandlungen etwa im britischen Bereich Privatleuten überlassen, übernahmen in katholischen Gebieten Orden diese Aufgabe. In den norddeutschen protestantischen Regionen organisierte man zu diesem Zweck die berühmten Sklavenkassen. Siehe dazu Magnus Ressel: Zwischen Sklavenkassen und Türkenpässen. Nordeuropa und die Barbaresken in der Frühen Neuzeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2012. Zu den Aktivitäten der Arciconfraternita del Gonfalone siehe Nicole Priesching: Von Menschenfängern und Menschenfischern. Sklaverei und Loskauf im Kirchenstaat des 16.-18. Jahrhunderts. Hildesheim, Zürich, New York: Olms 2012. Zu den Trinitariern liegt nun vor: Elisabeth Watzka-Pauli: Triumph der Barmherzigkeit. Die Befreiung christlicher Gefangener aus muslimisch dominierten Ländern durch den österreichischen Trinitarierorden 1690-1783. Göttingen: V&R unipress 2016. Zu den Mercedarier siehe noch immer: Brodman, James William, Ransoming Captives in Crusader Spain: The Order of Merced on the Christian-Islamic Frontier, Pennsylvania 1986. Zum Gesamtphänomen liefern sehr gute Einblicke: Wolfgang Kaiser (Hrsg.): Le commerce des captifs. Les intermédiaires dans l`echange et le rachat des prisonniers en Méditerranée. XVe-XVIIe siècle. Rom: École française de Rome 2008 und Nicole Priesching/Heike Grieser (Hrsg.): Gefangenenloskauf im Mittelmeerraum. Hildesheim, Zürich, New York 2015. Zum Zusammenhang von Sklaverei, Gefangenschaft, Freilassung, Loskauf und Arbeit in dem hier interessierenden Kontext siehe Daniel Hershenzon: "Towards a Connected History of Bondage in the Mediterranean: Recent Trends in the Field," in: History Compass 15-8 (2017): 1-13.

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