Rezension über:

Franz Leander Fillafer: Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750-1850, Göttingen: Wallstein 2020, 627 S., ISBN 978-3-8353-3745-9, EUR 54,90
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Rezension von:
Wolfgang Göderle
Institut für Geschichte, Karl-Franzens-Universität, Graz
Redaktionelle Betreuung:
Andreas Fahrmeir
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Göderle: Rezension von: Franz Leander Fillafer: Aufklärung habsburgisch. Staatsbildung, Wissenskultur und Geschichtspolitik in Zentraleuropa 1750-1850, Göttingen: Wallstein 2020, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 4 [15.04.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/04/35551.html


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Franz Leander Fillafer: Aufklärung habsburgisch

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Mit einem über 600seitigen Band legt Franz Leander Fillafer ein - nicht nur in Fachkreisen bereits lang ersehntes und erwartetes - beeindruckendes Panoptikum zur intellectual history im sattelzeitlichen Zentraleuropa vor. Die dahinterstehende Forschungsleistung ist enorm: Der Autor, der sich in den letzten zehn Jahren einen Namen als innovativer und pointierter Spezialist zur Geistes- und Ideengeschichte des Habsburgerreiches gemacht hat, adressiert mit diesem Hauptwerk seiner bisherigen Arbeit mehrere Desiderata und schließt eine substantielle Forschungslücke. Sein knapp hundertseitiges Literatur- und Quellenverzeichnis, das ein halbes Dutzend Sprachen abdeckt, reflektiert eine Auseinandersetzung mit dem Gegenstand, die in dieser Tiefe und Breite für ein Jahrhundert ihresgleichen sucht.

Wortgewaltig und leichtfüßig setzt Fillafer zu einer Neubewertung der dominanten historiographischen Narrative über Zentraleuropa für die Zeit zwischen 1750 und 1850 an. Seine umfassende und granulare Rekonstruktion der Aufklärung im Habsburgerreich unterläuft nach wie vor verbreitete Auffassungen von dieser als einem rückständigen und reaktionären politischen Gebilde, das sich den globalen und transimperialen Strömungen entzog und erfolgreich abschottete. Vorausgeschickt sei an dieser Stelle noch, dass Fillafer auf extrem hohem theoretischem Niveau operiert, es ist hier ein Autor am Werk, der mit meisterhaftem Geschick gleich mehrere analytische Instrumentarien komplementär einzusetzen vermag, das schließt auch die sorgfältige soziologische Grundierung dieser Arbeit mit ein.

Der Aufklärungsbegriff wird damit zu einem Bohrkern, der vertikal zur Verbindung verschiedener Sedimentsschichten habsburgischer Herrschaft herangezogen wird. In diese Schichten wird dann horizontal vorgedrungen, um verschiedene Fragekomplexe miteinander in Beziehung zu setzen. Fillafer identifiziert in sieben Kapiteln wichtige Topoi in denen sich diskursive Ausverhandlungen verdichten, und die exemplarisch ausgerollt und im Detail zur Illustration des Entwicklungsbogens über den Untersuchungszeitraum herangezogen werden. Das erste Kapitel - Von der Vaterlandsliebe zum Völkerfrühling, 1770-1848 - fungiert dabei als lose Klammer für die nachfolgenden Kapitel, es stellt für diese den Rahmen bereit.

In den beiden darauffolgenden Kapiteln - Die katholische Aufklärung bzw. Die Erfindung der Allianz von Thron und Altar - entfaltet sich zunächst eine umfassende Analyse des Verhältnisses von Kirche und Herrschaft im späten Habsburgerreich, dem Ideenhistoriker Fillafer gelingt es vor allem mühelos die spezifische Qualität einer Aufklärung im Habsburgerreich freizulegen, und zu ihrem vollen Erklärungspotential hinblicklich der zentralen sozialen Prozesse für die Genese zentraleuropäischer Gesellschaften zu verhelfen.

Eine leichte Veränderung der Perspektive erfolgt im vierten Kapitel, das sich den vormärzlichen Wissenskulturen widmet. Fillafer arbeitet die Verwandlung der Aufklärung dabei anhand der Evolution des Verhältnisses von Bibelhermeneutik und Naturforschung heraus und rekonstruiert daraus die zentralen wissenschaftlichen Diskurse im Vormärz.

Im Licht seiner Erkenntnisse entwirft Fillafer im fünften Kapitel eine neue Sicht auf die wirtschaftliche Entwicklung der Habsburgermonarchie in der Sattelzeit. Gestützt auf seine umfassende Kenntnis zeitgenössischer bürgerlicher Ideen- und Vorstellungswelten rekonstruiert er den politischen und gesetzlichen Rahmen der wirtschaftlichen Integration Zentraleuropas.

Zweifellos zentral ist das sechste Kapitel, "Naturrechtspraxis und Empire-Genese. Kodifikation, Rechtsstaat, Wissenschaftsgeschichte", hier liegt merklich die Kernkompetenz des Autors, der seine Analyse so souverän wie nachvollziehbar ausbreitet. Im deutlich längsten Kapitel der Arbeit widerlegt Fillafer die verbreitete Auffassung, die Jurisprudenz der Habsburgermonarchie wäre vor 1848 von naturrechtlichen Vorstellungen dominiert gewesen. Er illustriert anschaulich den modus operandi staatlicher Behörden und gesellschaftlicher Genese im vormärzlichen Zentraleuropa.

Im siebten und letzten Kapitel, betitelt "Aufklärungserbe und Revolutionsabwehr", wird schließlich die Historisierung der habsburgischen Aufklärung und deren Einfluss auf die Ausgestaltung der politischen Landschaft Zentraleuropas nach 1848 untersucht.

Daran knüpfen, zunächst verwirrend, gleich drei abschließende Kapitel an, das erste, wenig aussagekräftig, "Überblick" benannt, das zweite "Was war Aufklärung?" betitelt. Es folgt darauf auch noch ein zweieinhalbseitiges zusammenfassendes Exposé mit der Überschrift "Das Gesamtbild". Der das Werk kapitelweise subsummierenden Überblick wäre womöglich an die Einleitung angehängt besser platziert, "Was war Aufklärung?" stellt die eigentliche, sehr gelungene abschließende Beantwortung der gestellten Forschungsfragen dar. Fillafer seziert luzide das schwierige Verhältnis Zentraleuropas zur Aufklärung, er stellt die Verbindung dieser Auseinandersetzung zu einem internationalen Diskurs her, und er schafft im besten Sinn einen common ground, eine Basis für eine gemeinsame Verständigung über Zentraleuropa vor dem Hintergrund des jüngsten Forschungsstandes.

Der so polyglotte wie belesene Fillafer legt mit "Aufklärung habsburgisch" ein Standardwerk vor, das einer Generation eine Grundlage zur weiteren Vervollständigung des von ihm skizzierten Bildes weisen wird. Das Werk geht in Teilen weit über den im Titel deklarierten Anspruch hinaus, partiell ist es eine Gesellschaftsgeschichte Zentraleuropas, das nicht nur eine langerwartete Brücke zwischen den blühenden Forschungslandschaften der habsburgischen Früh- und Spätneuzeit schlägt, sondern auch als Fundament einer überfälligen Sozialgeschichte genützt werden wird. Es ist dies ein nicht immer gut zugänglicher und leicht lesbarer Reiseführer, dessen Lektüre aber lohnt. Kapitelweise schafft Franz Leander Fillafer Letztreferenzen, die sehr lange unwidersprochen bleiben werden (v.a. aber nicht nur Kapitel VI), zumal seine Skalierung zwischen einzelnen Handelnden und der übergeordneten Strukturebene über weite Strecken virtuos ist. Die höchste Auflösung in der Abbildung lässt sich klarerweise nicht durchhalten, besonders wenn die Darstellung grobkörniger werden muss, schleichen sich vereinzelt Unschärfen ein. Es überrascht, ist vielleicht aber nur dem ohnehin bereits beachtlichen Umfang der Studie geschuldet, dass der Autor im Zweifel die transimperialen Querverbindungen und Beziehungen unvertieft lässt, und dass die globale Verflechtung nicht konsequent thematisiert wird.

Fillafer, der nicht als Verfechter einer imperial history bekannt ist, operationalisiert einen analytischen Staatsbegriff der sicherlich zu einer Pluralisierung der anhaltenden Debatten im Kontext der revisionistischen Darstellungen der letzten Jahre beitragen wird. Die schnelle und positive Rezeption dieses wichtigen Buches auf breiter Ebene ist ein Beleg für die Relevanz und die Überfälligkeit dieser schönen Studie.

Wolfgang Göderle