Rezension über:

Rainer Schützeichel: Die »Theorie der Baukunst« von Herman Sörgel: Entwürfe einer Architekturwissenschaft, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2019, 368 S., ISBN 978-3-496-01631-1, EUR 79,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Manuela Klauser
Höhenkirchen-Siegertsbrunn
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Manuela Klauser: Rezension von: Rainer Schützeichel: Die »Theorie der Baukunst« von Herman Sörgel: Entwürfe einer Architekturwissenschaft, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2019, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 5 [15.05.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/05/35349.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Andere Journale:

Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.

Rainer Schützeichel: Die »Theorie der Baukunst« von Herman Sörgel: Entwürfe einer Architekturwissenschaft

Textgröße: A A A

1918 publizierte der Münchner Architekt Herman Sörgel (1885-1952) seine "Architektur-Ästhetik", mit der er einer auf der subjektfokussierten Architekturwahrnehmung basierenden, von den Bildkünsten losgelösten Kunstauffassung den Weg ebnen wollte. Sie erschien noch im selben Jahr erneut, nun als erster Band einer dreiteilig geplanten "Theorie der Baukunst", doch die weiteren Bände zur Architekturgeschichte und zur Stillehre sollten nie vollendet werden. Bis Ende der 1920er-Jahre veröffentlichte Sörgel immer wieder einzelne Fragmente seiner Theorie, überwiegend in Aufsätzen. Dann wandte er sich jedoch einer anderen Lebensaufgabe zu. Mit dem geopolitisch konzipierten Atlantropa-Projekt entwickelte er Pläne zur Absenkung des Mittelmeerspiegels durch riesige Staudammanlagen zur Energie- und Neulandgewinnung für Europa und Afrika. Sörgel erlangte internationale, bis heute anhaltende Bekanntheit, auch wenn eine Realisierung des Projekts nie angegangen wurde.

Seine "Theorie der Baukunst" ist hingegen eher auf Fachkreise der Architekturtheorie und philosophischen Raumlehre beschränkt und aufgrund ihres fragmentarischen Charakters kaum in ihrer Tiefe bekannt. Rainer Schützeichel spannt in seiner 2019 erschienenen Untersuchung daher einen weiten Bogen und begibt sich auf eine intensive Spurensuche in Sörgels architektonischem und schriftlichem Nachlass. Der Autor beginnt mit Sörgels 1912 bzw. 1915 verfassten, jedoch nicht angenommenen Dissertationsschriften an der Königlich Technischen Hochschule München, wo Sörgel von 1904 bis 1908 Architektur studiert hatte, und analysiert dessen weitere Essays, Manuskripte und Notizen zur Architekturtheorie- und geschichte in chronologischer Reihenfolge.

Das als Hardcover verlegte, gute 360 Seiten starke Buch des Reimer Verlags in Berlin enthält zahlreiche, meist halb- oder viertelseitige, farbige Abbildungen, die einen umfassenden Einblick in nicht veröffentlichtes Archivmaterial aus Sörgels Nachlass gewähren, wobei Abdrucke von handschriftlichen Notizen aufgrund der Abbildungsgröße kaum zu entziffern sind. Die formale Gliederung des Inhalts orientiert sich an der dem Band zugrundliegenden Dissertation Schützeichels und ist nach einem Vorwort von Ákos Moravánszky in vier Hauptkapitel plus Schlussbetrachtung und einen umfangreichen Anhang aufgeteilt. Der Anhang enthält ein Biogramm Sörgels, einen Werk- und Projektkatalog, ein Schriftenverzeichnis sowie Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Personenindex. Es sei an dieser Stelle auch einmal angemerkt, dass der gesamte Korpus äußerst sorgfältig lektoriert ist.

Grundlage der Arbeit stellen Sörgels Nachlass, seine publizierten und nicht publizierten wissenschaftlichen sowie journalistischen Themen, seine Betätigungsfelder und eine Rekonstruktion seines Netzwerks (u.a. Theodor Fischer, Cornelius Gurlitt, Fritz Schumacher u.v.a.) dar. Die Auswertung dieses umfangreichen Materials wird von einer Einordnung der von Sörgel vertretenen Theoreme zur "Architektur als raumgestaltende[n] und gegenüber den Bildkünsten Malerei und Plastik autonome[n] Kunst" (12) sowie einer Analyse der zeitgleichen Reflektion der Sörgel'schen Architektur-Ästhetik respektive des heutigen Forschungsstands virtuos abgerundet (25f.). [1] In zwei Kapiteln über die "Theorie der Baukunst" und über Sörgels weitere Schriften, welche mit fast 200 Seiten den Hauptteil des Buchs ausmachen, lässt Schützeichel mittels akribischer Textanalysen ein detailliertes Bild von Sörgels Architekturverständnis entstehen. Die parallel erarbeitete Diskursanalyse der jeweiligen Schriften beschränkt sich dabei weitestgehend auf die von Sörgel selbst konsultierten und zitierten Quellentexte zur Kunst- und Architekturtheorie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Sörgel traf thematisch zu Beginn der 1920er-Jahre einen grundlegenden Nerv der Zeit, wenn er forderte, Architektur im Sinne Schmarsows ihrem Wesen nach und nicht ihrem Erscheinungsbild nach zu beurteilen und darauf eine neue Basis einer autonomen Architekturlehre zu begründen, doch zugleich weist seine Architekturtheorie auch Schwachstellen auf, die bereits zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung trotz wohlwollender Rezensionen kritisch diskutiert wurden. Fritz Schumacher beispielsweise machte früh auf Sörgels Schriften aufmerksam und ließ einige Ansätze auch in seine eigenen Texte einfließen. Später distanzierte er sich von Teilen in Sörgels theoretischen Überlegungen. (23, 55, 141f. u.v.a. 157)

Zu einem recht frühen Zeitpunkt und zeitnah zu Edmund Husserls ersten Schriften zur Phänomenologie (ohne sich indes direkt auf diese zu beziehen) eignete Sörgel sich phänomenologische Ansätze der Architekturwahrnehmung an. Zugleich distanzierte er sich von ästhetischen Positionen der Kunsttheorie etwa Heinrich Wölfflins oder Adolf von Hildebrands, worin sich seine Zielsetzung ausdrückte, in der Architekturlehre Prinzipien zu benennen, die sich deutlich von jenen der Bildkünste unterschieden. 1915 formulierte Sörgel in seinem zweiten Dissertationsprojekt das "Prinzip der Konkavität von innen und aussen" (48f.) (Bikonkavität), nach denen in der Architektur nicht der Körper, sondern der durch den/die Körper erzeugte Raum im Vordergrund stehen müsse - innen wie außen. Doch mit dem Anspruch, über diesen auch der nachfolgend verfassten "Architektur-Ästhetik" zugrundeliegenden Ansatz hinaus seine "Theorie der Baukunst" auf insgesamt drei Säulen zu stellen, (33f. - in der Wahl der Systematik an Semper und Hildebrand orientiert) sah sich Sörgel angesichts des Versuchs, Architektur-Geschichte und Architektur-Stillehre ebenso gewissenhaft und universell zu systematisieren, mit dem Paradox der "Janusgesichtigkeit" (78) von Architektur konfrontiert. Es gelang ihm letztlich nicht, den selbst erzeugten Gegensatz zwischen dem Raum und dem - einer Geschichts- und Stillehre zugrundeliegenden - Körper zu überwinden. Stattdessen fokussierte er sich zunehmend auf durchaus problematische kulturhistorische Ansätze etwa Paul Schultze-Naumburgs oder Oswald Spenglers und übertrug den Anspruch der Raumgestaltung auf die Kulturlandschaftsbildung durch den Architekten, was sich schließlich in seiner ATLANTROPA-Vision manifestierte. Als Architekturkritiker hingegen - etwa als Schriftleiter der Münchner Zeitschrift "Baukunst" (1925-1926) distanzierte er sich nicht überzeugend vom Objektcharakter respektive Körper der architektonischen Erscheinung, um stattdessen deren räumliche Charakteristiken zu erkennen und zu benennen.

Ende der 1920er-Jahre (1928) publizierte Sörgel eine Zusammenfassung der "Theorie der Baukunst" im Konversationslexikon "Wissen ist Macht". (137, Kap. 2.4., 137-159) Er stützte sich im Abschnitt zur Stillehre größtenteils auf Karl Ernst Osthaus' "Grundzüge der Stilentwicklung" (1918). [2] Dieser letzte Versuch, seine Theorie zu stabilisieren, demonstriert die nicht abgeschlossene Suche Sörgels nach adäquaten Maßstäben zur universellen Deutung von Architektur. Indes trug die intensive Rezeption der Osthaus'schen Schrift dazu bei, Körper und Raum nicht länger als zwei in der Theoriebildung konkurrierende Bereiche, sondern als zwei Teile eines Ganzen zu verstehen (156).

Trotz reger Kontaktpflege und Publikationstätigkeit scheint Sörgel wissenschaftlich in einer gewissen Isolation verharrt zu sein, welche von Schützeichel nicht immer deutlich genug benannt wird. Die detailnahe Textanalyse und ihr kritischer Abgleich mit potentiellen Quellentexten für die Systematisierungen, Theoretisierungen und Thematisierungen in Sörgels Werk erlauben hingegen einen tiefreichenden Einblick in dessen Gedankenwelt. Zeitbezogen und zukunftsweisend erschien Sörgels frühe Forderung, der Klassifizierung von Architektur nach Stilen endgültig eine Absage zu erteilen und die Eigenschaft von Architektur, Raum nach innen wie nach außen zu schaffen und zu beeinflussen, als Hauptkriterium anzuerkennen. Schützeichel widmet sich akribisch all diesen Punkten und arbeitet sie fundiert und in gut lesbarem Stil heraus. Die detaillierten Textanalysen setzen oft jedoch eine außerordentliche Kenntnistiefe der Originaltexte voraus. Zudem wäre es wünschenswert gewesen, wenn sich der Autor wissenschaftlich kritischer mit den Defiziten in Sörgels Gedankengängen auseinandergesetzt hätte.


Anmerkungen:

[1] Schützeichel verweist u.a. auf die Rezeption Sörgels in neueren und neuesten Standardwerken zur Architekturtheorie. Hier fehlt der Verweis auf Wolfgang Kemp: Der Architektonische Raum, Architektur analysieren. Eine Einführung in acht Kapiteln, hg. von Wolfgang Kemp, München 2009, 115-166, bes. 119 und 131f.

[2] Karl Ernst Osthaus: Grundzüge der Stilentwicklung, Hagen 1918. Paradoxerweise wurde Osthaus aufgrund dieses Büchleins die Ehrendoktorwürde der Universität Würzburg verliehen. Siehe auch Schützeichel 2019, 153-157.

Manuela Klauser