Daniel Münch: Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand. Wie stehen die Lehrer*innen dazu?, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2021, 398 S., 15 Tbl., 5 s/w-Abb., ISBN 978-3-7344-1265-3, EUR 46,90
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Geschichtskultur als eine Zentralkategorie der Geschichtsdidaktik auch als Gegenstand des Geschichtsunterrichts ernst zu nehmen und in Lehr-Lern-Prozessen den reflektierten Umgang mit Geschichtskultur zu fördern, gehört inzwischen zu den Standards in der Lehrkräftebildung. Auch auf der normativen Ebene ist diese Aufgabe des Geschichtsunterrichts zunehmend in Lehrplänen verankert. Die Implementation von Konzepten in die Praxis ist jedoch ein komplexer Prozess - zuvörderst setzen die Lehrkräfte Innovationsprozesse in ihrem Unterricht um. Über ihre die Haltung zur Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand ist jedoch wenig bekannt. Daniel Münch gibt mit seiner instruktiven Studie wichtige Einblicke in ihr allgemeines Begriffsverständnis, ihren Überzeugungen über Geschichtskultur sowie Einschätzungen zur Relevanz als Unterrichtsgegenstand, nicht nur als Medium der Veranschaulichung oder als Motivation zur Auseinandersetzung. Diese Einschätzungen legen zugleich Einblicke in Ansichten über Geschichtsunterricht im Allgemeinen frei. Sind Lehrkräfte bereit, Geschichtskultur zu unterrichten?
Ein sehr konziser und lesenswerter Überblick zur "Geschichtskultur als Forschungskonzept", der mehr ist als die in Dissertationen üblicherweise vorzulegende begriffliche Klärung, eröffnet den Band. Er stellt nicht nur präzise geschichtsdidaktische Positionen und Debatten dazu vor (Kuss, Rüsen, Schönemann Pandel), sondern verweist auch auf definitorische Unschärfen (z.B. 23, 31).
Die im Fach unumstrittene Unterrichtsrelevanz von Geschichtskultur charakterisiert er in dreierlei Hinsicht: 1. Sie ist erforderlich in Forschung wie Unterrichtsplanung, um das durch die Geschichtskultur geprägte Vorwissen der Schülerinnen und Schüler aufgreifen zu können. 2. Sie ist relevant als Inhalt des Unterrichts selbst, damit Schülerinnen Schüler einen kritischen Umgang mit ihr erlernen. 3. Sie ist geboten, um Partizipation an der lokalen Geschichtskultur zu ermöglichen. Daran anschließend zeigt Münch, dass Geschichtskultur in allen Kompetenzmodellen aufgegriffen wird und bei aller Verschiedenheit es im Kern darum geht, die "Fähigkeit, Deutungen und Orientierungsangebote in verschiedenen Materialien zu erkennen, auf Plausibilität zu prüfen, ihre Funktion zu beschreiben und aufzuzeigen, durch welche Gestaltungsmittel sie kommuniziert werden." (54) Zurecht verweist er an dieser Stelle auf die Herausforderung, dass die Interpretation von Geschichtskultur sowohl Wissen über die Vergangenheit als auch über die Gegenwart beansprucht, mithin erhöhte Anforderungen stellt.
Im nächsten Unterkapitel erfolgt die kenntnisreiche Abgrenzung des geschichtsdidaktischen Konzepts der Geschichtskultur von kultur- und geschichtswissenschaftlichen Gegenstandsfeldern der Erinnerungskultur und der Public History. Münch kann zeigen, dass die Begriffe deutlich offener konzipiert sind als sie empirisch genutzt werden (69). Das Kapitel wird abgeschlossen mit einer exemplarischen Konkretisierung der drei geschichtskulturellen Phänomene Museen, Gedenkstätten und Spielfilme. Sie bilden die konkreten Gesprächsanlässe über Geschichtskultur in den Interviews. Mit der Darstellung besonderer Herausforderungen für historisches Lernen und der bisherigen Nutzung in Lernprozessen, generiert er zugleich einen Vergleichsmaßstab für die Erzählungen der Interviewpartner (71). Bevor er sich aber den Geschichtslehrkräften zuwendet, werden Erkenntnisse der Implementationsforschung (95-104) vorgestellt. Von besonderem Interesse ist dabei, dass Münch für die Konzeption seines Fragebogens das sog. Concern-Based-Adaption-Model für die Geschichtsdidaktik fruchtbar macht. Im Mittelpunkt dieses Modells zur Untersuchung von Innovationsprozessen im Bildungswesen bzw. ihrer Akzeptanz bei Lehrkräften stehen die beteiligten Personen mit ihren Anliegen, Interessen, Verhaltensweisen und Handlungen während eines Innovationsprozesses, die eine Abfolge von "concerns" (Anliegen oder Sorgen) durchlaufen.
Das den Lehrplänen "als ein Scharnier zwischen didaktischer Theorie und schulpraktischer Umsetzung" (95) zugrundeliegende Verständnis von Geschichtskultur wird durch eine Lehrplananalyse von 14 Bundesländern (Stand Februar 2015, die nur im Entwurfsstadium vorliegenden Lehrpläne in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg blieben unberücksichtigt) fassbar (105-137). Münchs präzise und differenzierte Fragestellung nach der curricularen Zuweisung der Unterrichtsrelevanz von Geschichtskultur führt zu einer überzeugenden Kategorienbildung und plausibilisiert die Auswahl für seine empirische Untersuchung: So findet in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Geschichtskultur breiten Raum mit klaren Handlungsaufträgen, ist aber als Unterrichtsgegenstand ganz unterschiedlich konzeptualisiert, was die Auswahl besonders interessant macht.
Der folgende Hauptteil der Studie befasst sich mit den Geschichtslehrkräften. Zunächst führt der Verfasser in den geschichtsdidaktischen Forschungsstand zur Lehrerprofessionsforschung und dem Konzept der Überzeugungen von Lehrkräften ein, durch die berufsbezogenen Kognitionen rekonstruiert werden können. Konnten geschichtsdidaktische Studien bislang ein relativ distanziertes Verhältnis von Lehrkräften zu geschichtsdidaktischen Theorien zeigen (vgl. Bodo von Borries, Markus Daumüller, Katharina Litten, Michael Sauer, Ludger Schröer), so stand bislang Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand nicht im Fokus der Professionsforschung. Der für die Studie gewählte Mixed-Methods-Ansatz ist überzeugend und begründet: Eine quantitative Fragebogenstudie mit Fragen zu Wissen und Konzept der Geschichtskultur bei Adaption der Stages-of-Concern-Fragen sollte zeigen, wie sich Lehrkräfte zur Einbindung positionieren. Die qualitative Erhebung erfolgte durch Leitfadeninterviews aus den drei Bundesländern. Die Auswertung von zwölf Interviews wurde anhand der Dokumentarischen Methode vorgenommen, ergänzt durch eine eher themen- als fallbezogene qualitative Inhaltsanalyse.
Da der geringe Rücklauf der Fragebögen keine aussagekräftigen Profile ergab, liegt die Relevanz des Fragebogens in der Strukturierung des Forschungsfelds und der Anbahnung von Kontakten für die Interviews. Die Auswertung der Interviews (210-343) strukturiert der Verfasser in verschiedene Orientierungen für die drei geschichtskulturellen Phänomene Spielfilme, Museen und Gedenkstätten sowie für Geschichtskultur und den Geschichtsunterricht allgemein.
Die Befunde aus den Interviews und die zentralen Ergebnisse der Orientierungen im Fazit (344-364) sind vergleichsweise ernüchternd: Analytische oder partizipative Zugänge zur Geschichtskultur stellen die Ausnahme dar, ebenso die Wahl von Beispielen aus der populären Geschichtskultur. Beim Film überwiegt der illustrierende oder motivierende Einsatz als Medium, es werden Einstiege bzw. Inhalte gestaltet oder der Stoff am Ende wiederholt. Gattungsdifferenzierungen gibt es kaum. Es werden durchaus Fragen zum Film gestellt, historische Realität und geschichtskulturelle Repräsentation jedoch gleichgesetzt. Das Museum ist ein sehr geschätzter außerschulischer Lernort, der affirmativ genutzt wird, die Gemachtheit historischer Ausstellungen ist kein Unterrichtsgegenstand. Die Schülerinnen und Schüler sollen zum Museumsbesuch als Freizeitbeschäftigung ermuntert werden, die Lehrkräfte möchten also dessen Erlebnisqualität nutzen. NS-Gedenkstätten zählen für die Befragten ebenfalls als "Museum", deren enge Verbindung mit Emotionalität herausgestellt wird. Emotionen, so das Fazit, sind dabei stets Begleiterscheinung oder Ziel des Besuchs, jedoch kein Ausgangspunkt für Lernprozesse oder Reflexionen (284).
Münch belässt es nicht bei diesen Einzelbefunden, sondern kann zeigen, dass diese Vermeidung Ausdruck der Priorisierung zweier anderer grundlegender Unterrichtsziele der Lehrkräfte ist: die Vermittlung historischer Inhalte und das damit einhergehende Bemühen um Anschaulichkeit.
Aus den wenigen Positivbeispielen leitet der Verfasser drei Voraussetzungen für die Thematisierung von Geschichtskultur ab: 1. Lehrplanimpulse können vor allem für jüngere Lehrkräfte in der Berufseinstiegsphase orientierende Wirkung entfalten. 2. Eigenes Interesse der Lehrkräfte kann Geschichtskultur zum Unterrichtsgegenstand werden lassen, wenn konkrete Leitfragen oder Erkenntnisziele angebunden werden können. 3. Zentrale Voraussetzung ist ein Vertrauen der Lehrkräfte in die Fähigkeit zur Urteilsbildung ihrer Schülerinnen und Schüler.
Abschließend werden aus der Studie Vorschläge zur Verbesserung des Implementationsprozesses entwickelt: Vielversprechend und innovativ ist die Anregung, nicht etwa schnell veraltende Sachverhalte aufzulisten, sondern allgemeine Entwicklungen und Phänomene aufzuführen, die sich durch Geschichtskultur thematisieren ließen, wie z.B. Geschichtsrevisionismus, Nostalgie oder die Kommerzialisierung von Geschichtsbildern. Unterstützung wäre durch die geschichtsdidaktische Pragmatik zu leisten, die mit Vorschlägen für Einzelstunden und Unterrichtsabschnitte anstelle aufwändiger Projektideen eine regelmäßige Berücksichtigung von Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand befördern könnte.
Daniel Münchs Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichtskultur- und Professionsforschung. Prägnant argumentierend ist die Fragehaltung gleichermaßen präzise wie den Interviewpartnern gegenüber wohltuend wertschätzend. Dass die Orientierung auf Vermittlung historischer Inhalte das größte Hindernis für die Etablierung von Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand zu sein scheint, ist ein wichtiger Befund. Im Fazit wäre dessen Relevanz noch klarer dahingehend abzuwägen und einzuordnen, dass dieses "Hindernis" ja zugleich eine zentrale Voraussetzung für Geschichtskultur als Unterrichtsgegenstand bildet. Münchs Vorschlag, die "Stofffixierung" im Geschichtsunterricht besser zu erforschen, könnte hier für weitere Präzisierungen sorgen.
Charlotte Bühl-Gramer