Rezension über:

Eva Werner: "I Have a Dream". Martin Luther King und die DDR (= Extremismus und Demokratie; Bd. 40), Baden-Baden: NOMOS 2021, 404 S., 18 Tbl., 16 Abb., ISBN 978-3-8487-8006-8, EUR 84,00
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Rezension von:
Maria Schubert
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Maria Schubert: Rezension von: Eva Werner: "I Have a Dream". Martin Luther King und die DDR, Baden-Baden: NOMOS 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 6 [15.06.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/06/36332.html


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Eva Werner: "I Have a Dream"

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Martin Luther King Jr. ist zweifelsohne das Gesicht der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung der 1960er Jahre. Aber nicht nur das - er gehört zu jenen Menschenrechtsaktivisten des 20. Jahrhunderts, die weltweit eine enorme Wirkungsgeschichte hinterlassen haben. Kings gewaltloser Widerstand hat lokale, nationale und globale Befreiungs- und Menschenrechtsbewegungen inspiriert. Dies gilt auch für die DDR, denn dort avancierte King zu einem Vorbild vieler Bürgerrechtlerinnen und -rechtler, die für ein Ende der Diktatur kämpften. Eva Werner arbeitet die Rezeptionsgeschichte Martin Luther Kings in der DDR nun erstmals umfassend auf und ergänzt damit gewinnbringend eine Reihe von in den letzten Jahren erschienenen Forschungsarbeiten, die sich mit den Beziehungen zwischen der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und der DDR beschäftigen.

Sie strukturiert ihre Forschungsergebnisse nach den vier Bereichen SED, Blockparteien, Kirchen sowie Friedens- und Bürgerrechtsbewegung. Nach einer Einführung in die Bedeutung der vier Gruppen in der DDR erörtert Werner ausführlich, wie King in diesen Kreisen rezipiert worden ist. Sie orientiert sich dabei ganz an den Quellenbeständen und arbeitet zum Beispiel heraus, wer mit King korrespondierte und welche Bezüge zu dem Bürgerrechtler vom staatlichen Fernsehen bis hin zum Samisdat bestanden. Werner ergänzt ihre Ausführungen mit eigens erstellten Graphiken mit Datenmaterial zur Anzahl und thematischen Gewichtung der King-Quellen in den jeweiligen Jahren - eine leserfreundliche Entscheidung, die einen schnellen Überblick ermöglicht. Die Fülle an Material aus akribischer Archivarbeit und Zeitzeugengesprächen und die strukturierte Darstellung sind beeindruckend.

Im ersten Kapitel stellt die Autorin dar, wie die SED King instrumentalisierte und zur Selbstlegitimation nutzte - ein Ergebnis, das zwar zu erwarten war, aber dennoch spannende Facetten aufweist. So zeigt Werner, dass die SED sich über die Brisanz des von King geforderten gewaltlosen Widerstandes für die Stabilität der DDR bewusst war. Die herrschende Partei versuchte die Deutungshoheit über King zu behalten, indem sie das Wirken des Bürgerrechtlers marxistisch-leninistisch auslegte.

Im Anschluss daran weist die Autorin überzeugend nach, dass die Ost-CDU eine besonders starke Rolle für die King-Rezeption spielte. So wanderten die vom CDU-geführten Union Verlag herausgegebenen Bücher von und über King durch Tausende von Händen und stellten damit eine entscheidende Quelle für die Verbreitung von Kings Gedankengut dar. Werner kommt wie bei ihrem Abschnitt zur SED zu dem Ergebnis, dass sich die Blockparteien gemeinsam mit der SED im Namen Kings profilierten, anstatt "ihm tiefgründige und wohlwollende Ehre zu erweisen" (183).

Die Instrumentalisierungsthese Werners ist generell plausibel, sollte aber um eine wichtige Überlegung ergänzt werden. Werners Argumentation basiert auf der Feststellung, dass King kein Kommunist war und einen eindeutig christlichen Widerstand vertrat. Somit bewertet sie die SED-Interpretation Kings als reine Propaganda. Dieses von Werner vertretene King-Bild lässt außen vor, dass dieser eine dezidiert kapitalismuskritische Haltung einnahm und sich für die Arbeiterbewegung einsetzte. Er kritisierte die amerikanische Wirtschafts- und Außenpolitik, sprach sich frühzeitig gegen den Vietnamkrieg aus und hoffte auf einen Umbau der Gesellschaft hin zu einem "democratic socialism", der in einer langen Tradition afroamerikanischer Theologie und vorhergehender Bürgerrechtsproteste stand. Zwar hatte diese Vision wenig mit den realexistierenden Sozialismen gemein, dennoch bot sie der sozialistischen Welt ideologische Anknüpfungspunkte. Es ist diese Komplexität in Kings Denken und Handeln, die seine Verehrung sowohl von staatlicher als auch von kirchlicher und oppositioneller Seite her erst ermöglichte. Die Verbindungen zwischen der SED sowie den Blockparteien zu King und anderen afroamerikanischen Bürgerrechtlern und Bürgerrechtlerinnen müssten stärker sowohl in den historischen Kontext der afroamerikanischen Theologie- und Bürgerrechtsgeschichte als auch in die breitere Solidaritätspolitik der sozialistischen Welt und des von der SED ausgerufenen "Bündnisses mit dem anderen Amerika" eingebunden werden.

In den folgenden zwei Kapiteln zu den Kirchen und der Friedens- und Bürgerrechtsbewegung zeigt Werner, dass King ein wichtiger Bezugspunkt für die Vermittlung von christlichen und pazifistischen Ideen war. Die von King gehaltenen Gottesdienste in Ost-Berlin 1963 beeindruckten zahlreiche Besucherinnen und Besucher so stark, dass sie zu Multiplikatoren von Kings Gedankengut wurden. Auf diese Weise konnte Kings Denken und Handeln DDR-weit publik gemacht werden. Werner weist in zahlreichen Quellen überzeugend nach, dass sich viele Christen und (spätere) Bürgerrechtlerinnen und -rechtler intensiv mit dem von King vertretenen gewaltlosen Widerstand beschäftigten, der die Friedliche Revolution von 1989 mitprägte. Die Autorin fragt in ihrer Quellenanalyse danach, ob diese Gruppen Kings Gedankengut semantisch eher mit staatlich gefärbten Begriffen aufgriffen oder ob sie den christlichen und gewaltlosen Widerstand betonten. Diese Eingruppierung führt in einigen Fällen zu Bewertungen, die zu hinterfragen sind. Zum Beispiel bediente sich Rolf Dammann, Generalsekretär des Bundes der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in der DDR, nach Werners Auffassung in einem Kondolenz-Telegramm an Coretta Scott King "staatsdoktrinärer Floskeln", weil er King als "Vorkämpfer [...] sozialer Gerechtigkeit" betitelte und damit "leichte Züge von staatlicher Loyalität" (202) aufwies. Eine solche Bewertung rückt Dammann in eine Staatsnähe, die so nicht vorlag. Eine tiefere Verortung der Quellen in die Forschungsdiskussion zu Staat, Kirche und Gesellschaft in der DDR, die stärker auffächert wie viele Zwischenräume zwischen "staatsloyal" und "oppositionell" lagen, hätten diese zum Teil recht statische Bewertung der Quellenbestände bereichern können.

Diese Kritikpunkte schmälern aber keineswegs Werners Forschungsleistung. Ihre Arbeit glänzt mit der strukturierten und umfassenden Darstellung des Quellenmaterials und schließt ein Desiderat der DDR-Geschichte. Die Arbeit ist zudem leserfreundlich geschrieben und aufgrund dieser Eigenschaften nicht nur für Fachhistorikerinnen und -historiker empfehlenswert, sondern auch für den Hochschulunterricht oder die gymnasiale Oberstufe geeignet.

Maria Schubert