Armin Unfricht: Religion und Kult im Peloponnesischen Krieg. Facetten des Politischen bei Thukydides, Graz: Leykam Buchverlag 2021, 209 S., ISBN 978-3-7011-0465-9, EUR 24,00
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Armin Unfricht widmet sich in seinem Buch, das die überarbeitete Version seiner Diplomarbeit aus dem Jahr 2018 darstellt, dem Thema der Religion im thukydideischen Werk. Damit hat sich der Autor einem durchaus schwierigen Aspekt des Werkes zugewandt, denn dessen religiöse Gesichtspunkte bedürfen einer sorgfältigen Analyse. Diese kann sicherlich nicht bei der Feststellung stehen bleiben, dass Thukydides Götter oder Heroen in seiner Narration nicht direkt ins Geschehen eingreifen lässt, oder der früher verbreiteten Ansicht folgen, auf die persönlichen Glaubensvorstellungen des Autors und seinen angeblichen Atheismus schließen zu können. [1]
Unfricht stellt in seiner "Einleitung" (11-24) nach einer knappen Revue des Forschungsstandes die Prämisse auf, dass der vermeintlich nüchtern-realistische Thukydides religiöse Aspekte nur dann erwähne, "[...] wenn sie ihm in unmittelbarem Zusammenhang mit den historischen Ereignissen zu stehen scheinen" (12). Außerdem spiele Religion primär in ihren psychologischen Auswirkungen eine Rolle und werde so als wichtige Determinante des menschlichen Handelns gezeigt. Als Erkenntnisziel wird ausgegeben, "[...] den religiös-kultischen Einfluss auf die im thukydideischen Geschichtswerk beschriebenen militärisch-politischen Ereignisse zu analysieren" (15), was anschließend in recht kleinschrittige und suggestive Fragen gegliedert wird (16).
Im ersten analytischen Kapitel des Buches (25-128) untersucht der Autor insgesamt 31 "Fallbeispiele" aus der Quelle anhand derer sich die Verquickung von Religion und Politik zeigen lasse. Die je als Unterkapitel angelegten, episodenhaft behandelten Fallbeispiele, bestehen im Kern aus Quellenparaphrasen, einer Situierung im historischen Kontext sowie teils etwas abschweifenden Erläuterungen zu einzelnen Details (beispielsweise 43 mit einer Erläuterung zu Athens Finanzen oder 55 mit Erwägungen zu Münztypen). Eine kontinuierliche und kohärente Argumentation unter Rückbindung an das eigene Erkenntnisziel kommt dabei nicht wirklich auf.
Anzumerken sind außerdem einige sachliche Schwierigkeiten: wirkliche Problematisierungen von Forschungsmeinungen und vermeintlichen Sachinformationen finden kaum statt (vgl. etwa das eindimensionale Spartabild und die Behandlung des Pausanias-Exkurses auf 68ff.). Stellen, die gerade für die Frage nach der Rolle von Religion im Werk zentral sind, werden vielfach nicht in ihrem Wert und ihrer Komplexität gewürdigt. Die Darstellung rund um die Pest in Athen (Thuk. 2.47-54) dient etwa nur ausschnitthaft an verschiedenen Stellen als Beispiel, so für unsichere Orakeldeutungen (35) oder den Glauben an eine Unkontrollierbarkeit der göttlichen Sphäre (46). Darin erschöpft sich ihre Bedeutung für das Thema ganz sicher nicht und eine zusammenhängende Behandlung wäre hier wohl ergiebiger. [2] Andere Fälle finden unterdessen gar keine Beachtung, etwa die bemerkenswerte Aufzählung der besonderen Leiden in der sog. παθήματα-Liste (Thuk. 1.23). [3] Zwar erhebt die Sammlung von Fallbeispielen explizit keinen Anspruch auf Vollständigkeit (25), möglicherweise ist ein solcher Verzicht aber auch dem Umgang mit der Quelle geschuldet: Fragen nach einer übergeordneten Gestaltungsabsicht, weiteren Ebenen oder Brechungen der Darstellung werden nicht gestellt und Thukydides wird gemäß den vorher aufgestellten Prämissen als vertrauenswürdiger Belegstellenlieferant politischer Geschichte behandelt. Im Übrigen werden auch die Reden im Werk einzig als Belegstellen herangezogen - auch hier wäre eine ausführlichere Problematisierung wünschenswert (30, Anm. 22).
Im folgenden Kapitel werden die Fallbeispiele unter dem Titel "Kategorisierung" (129-188) in sechs Kategorien mit weiterer Binnengliederung eingeordnet, also prima vista eine systematischere Struktur avisiert. Diese Kategorien gestalten sich aber leider nicht wirklich trennscharf, was vom Autor selbst eingeräumt wird (129). Im Kern besteht das Kapitel aus der Erläuterung der einzelnen Kategorien und Subkategorien, welche zumeist griechische Religionspraktiken oder religiöse Instanzen abbilden, woraufhin dann eine Zuordnung der thukydideischen Fallbeispiele zu diesen stattfindet. Die Erläuterungen zu den einzelnen Kategorien sind nach den Erklärungen zu den Fallbeispielen nicht nur teils redundant, sondern gehen oft auch weit über das hier Notwendige hinaus, sodass sie phasenweise eher wie eine Einführung in griechische Religion per se wirken und die Anbindung ans Thema der Untersuchung verloren geht. Beispielhaft mag hier die Ausführung zu "Immunität von Herolden und Botschaftern" (133f.) stehen, die nicht mit dem Thema verknüpft und auf Thukydides angewendet wird, was sich etwa in Bezug auf Thuk. 2.67 doch anbieten könnte.
Im zusammenfassenden Kapitel "Conclusio: Religion und Politik als 'Symbiose der Macht'" (189-198) ist sodann das eigentliche Fazit (196ff.) zentral: Religion werde teilweise bewusst von verschiedenen Akteuren für politische Zwecke instrumentalisiert, spiele aber auch ansonsten eine Rolle für politische Entscheidungen, ohne dass Hintergedanken erkennbar wären. Außerdem sei Religion sowohl innen- wie außenpolitisch wirksam, während sich die Spartaner regelmäßig frommer zeigten als die Athener. Bestimmte religiöse Aspekte, etwa Eidbrüche und Frevel, eigneten sich noch dazu besonders für eine politische Indienstnahme. Auf diese Punkte ist im Verlauf der Untersuchung in der Tat Bezug genommen worden und die Ergebnisse erscheinen grundsätzlich sinnvoll. Leider bleibt aber eine akzentuierte, argumentative Hinführung zu ihnen aus und so wird dem Bild von Religion bei Thukydides keine wirklich neue Facette abgewonnen. [4]
Es ist zu bemerken, dass der Autor einige Schwächen des Buches im Vorwort explizit vorwegnimmt, wo er lange Quellenparaphrasen "[...] oder das Referieren und Gegenüberstellen unterschiedlicher Forschungsmeinungen, ohne dabei selbst Stellung zu beziehen [...]" unter Anderem mit einem im Status des Diplomanden wurzelnden "Zweifel an der eigenen Kompetenz" und "Mangel an Erfahrung" begründet. Dafür ergebe sich so ein Buch, dessen Ziel es sei "[...] eine übersichtliche und leicht zugängliche [...] Darstellung der "Religionspolitik" im Geschichtswerk des Thukydides zu bieten" (alle 9). Grundsätzlich ist das nicht von der Hand zu weisen; die grundlegenden Sammlungen und Erklärungen thukydideischer Beispiele können für Themeneinsteiger durchaus einen ersten Zugang ermöglichen und auf Verflechtungen von Religion und Politik hinweisen. Überhaupt ist zu begrüßen, dass der Thematik ein gewisser Stellenwert eingeräumt wird. Übersichtlichkeit ist wegen der genannten Kritikunkte jedoch schwerlich zu konstatieren und der Begriff "Religionspolitik" ist hier zumindest unglücklich gewählt. Der Umgang mit der Quelle und die Enthaltsamkeit in puncto Problematisierungen lassen die Untersuchung so auf der Ebene der Deskription und des Konsensualen stehen bleiben, wo es sich durchaus lohnen könnte, weitere Fragen nach womöglich weniger eindeutigen Adressierungen einer übermenschlichen Bezugsebene im Werk zu stellen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. zur Forschungsgeschichte N. Marinatos: Thucydides and Religion, Königstein / Ts. 1981 (Beiträge zur Klassischen Philologie; H. 129), 1-13; W. D. Furley: Thucydides and Religion, in: Brill's Companion to Thucydides, ed. by Tsakmakis / A. Rengakos, Leiden / Boston 2006, 415-438, hier 415f.
[2] Vgl. dazu L. Kallet: Thucydides, Apollo, The Plague, and the War, in: AJPh 134/3 (2013), 355-382, passim.
[3] Dazu L. Strauss: The City and Man, Chicago 1964, 150f.; Furley: Thucydides and Religion, 422f.
[4] Eine große Schnittmenge besteht beispielsweise mit Beobachtungen in B. Jordan: Religion in Thucydides, in: TAPhA 116 (1986), 119-147, passim.
Jano Meyer