Anja Amend-Traut / Ignacio Czeguhn / Peter Oestmann (Hgg.): Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 75), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 440 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-51878-3, EUR 70,00
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Anja Amend-Traut / Josef Bongartz / Alexander Denzler u.a. (Hgg.): Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020
Anja Amend-Traut / Anette Baumann / Stephan Wendehorst u.a. (Hgg.): Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis, München: Oldenbourg 2012
Ignacio Czeguhn / Heiner Lück (Hgg.): Kaiser Karl V. und das Heilige Römische Reich. Normativität und Strukturwandel eines imperialen Herrschaftssystems am Beginn der Neuzeit, Stuttgart: S. Hirzel 2022
Unter dem Titel des Bandes fand im April 2018 in Wetzlar das 11. Wissenschaftliche Kolloquium der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung statt, auf dem sich Historiker und Rechtshistoriker epochenübergreifend und europäisch vergleichend mit den Mechanismen gerichtlicher Entscheidungsfindung und der Darstellung der getroffenen Entscheidung auseinandergesetzt haben. Die meisten der dort gehaltenen Vorträge sind im Band nun veröffentlicht.
Nach einer Einführung durch Ignacio Czeguhn stellt Thomas Fischer aus Sicht des geltenden Rechts die Frage, inwieweit dem Bundesgerichtshof als Revisionsgericht in Strafsachen Wahrheitsfindung möglich ist. Er weist damit auf Problemfelder hin, die sich auch der historischen Forschung stellen: die je nach Epoche und Kultur divergierenden Auffassungen von Wahrheit und den Umstand, dass Akten allenfalls Ausschnitte der Wirklichkeit wiedergeben. Thematisiert werden ferner der Konformitätsdruck bei Entscheidungen, die Einstimmigkeit fordern, und die Tatsache, dass die an der Entscheidung beteiligten Richter den Fall zumeist nicht aus den Akten, sondern nur aus dem Vortrag des Berichterstatters kennen.
Den Einstieg in die historische Thematik liefert Wolfgang Ernst mit einem instruktiven Überblick über die Abstimmungsmodi in Kollegialgerichten, die nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden. Vorgestellt werden Lösungsmöglichkeiten bei Stimmengleichheit und Vorgehensweisen beim Vorliegen mehrerer divergierender Ansichten. Mit dem Stillstand der Rechtspflege (justitium), etwa in Kriegszeiten, beschäftigt sich Benjamin Lahusen. Auf der Grundlage einer 1689 erschienenen, die Thematik erstmals aufgreifenden Dissertation und der Mitte des 17. Jahrhunderts einsetzenden preußischen Gesetzgebung zeigt er auf, dass Gerichtsstillstand kein Zustand der Rechtlosigkeit ist, sondern das Recht ihn durch Regeln überwindet, die die Parteien vor den Nachteilen des Stillstands (etwa Fristabläufen) schützen.
Der mittelalterlichen deutschen Gerichtsbarkeit widmen sich drei Beiträge. Heiner Lück behandelt die Entstehung, Zusammensetzung und Spruchpraxis verschiedener Schöffenstühle und Oberhöfe des sächsisch magdeburgischen Rechtskreises. Die Spruchkörper gingen teils aus städtischen Räten, teils aus einem landesherrlichen Hof- oder einem Lehnsgericht hervor, teils wurden sie vom Landesherrn gegründet und waren daher entweder mit Laienrichtern aus dem Stadtpatriziat oder dem Adel besetzt; z.T. hielten auch gelehrte Richter Einzug. Wie das Recht gefunden wurde, ist oft nicht zu rekonstruieren. Masaki Tagushi beschäftigt sich mit kontradiktorischen und Schiedsgerichtsverfahren am Hofgericht deutscher Könige im 14. Jahrhundert und stellt fest, dass die dinggenossenschaftliche Struktur in kontradiktorischen Fällen durchweg beibehalten und zumeist ohne den Herrscher beraten wurde. Schiedsverfahren hatten vor allem unter Karl IV. Erfolg. Im Beitrag von Stefan Teuscher geht es um dinggenossenschaftliche Entscheidungsfindung in dörflichen Gerichten in Form der Weistümer. Dem bisherigen "romantischen Bild" hält er entgegen, dass Weistümer weder die einzigen lokalen Rechtsüberlieferungen waren, noch dass sie zwingend aus schriftloser Überlieferung stammten und keineswegs nur Bauern beteiligt waren.
Die Übergänge vom Mittelalter in die frühe Neuzeit zeichnen die Beiträge von Hans-Jürgen Becker und Antonio Sánchez Aranda nach. Becker gibt einen Überblick über die Entwicklung der kirchlichen Gerichtsbarkeit in ihren unterschiedlichen Facetten im Reich und den Territorien vom Spätmittelalter bis zur Kurienreform von 1588 und Aranda behandelt die Organisation der höchsten Gerichtsbarkeit in Kastilien und die von den einzelnen Herrschern vorgenommenen Reformen.
Auch alle weiteren Untersuchungen thematisieren die Rechtsfindung in Spruchkörpern der Höchsten Gerichtsbarkeit. José Antonio López Nevada befasst sich ebenfalls mit den Kastilischen Gerichtshöfen und geht auf die Bindung der Richter an den stylus curiae bei Entscheidungsfindung und Urteilsabfassung ein. Charakteristisch war, dass die Urteile nicht begründet wurden, während dies in den Königreichen der beiden Aragon ab dem 16. Jahrhundert üblich war, was der Autor auf die absolutistischere Herrschaft in Kastilien zurückführt.
Die Beiträge von John D. Ford und Mark Godfrey behandeln das 1532 gegründete schottische College of Justice. Ford geht aufgrund der Überlegungen eines englischen Richters den von diesem hervorgehobenen und zur Nachahmung in England empfohlenen Vorzügen des schottischen Verfahrens nach. Einen noch tieferen Einblick in Struktur und Entscheidungsfindung des aus 15 Assessoren bestehenden schottischen Gerichts bietet Godfrey. Während der Sitzungen und Beratungen durfte nur mit Erlaubnis des Präsidenten gesprochen werden. In der nicht öffentlichen Beratung hatten die Assessoren hintereinander jeweils zu zweit ihre Meinung darzutun. Danach wurden die Voten abgefragt. Es galt das Mehrheitsprinzip. An der Abstimmung durfte nur teilnehmen, wer bei der Beweisaufnahme zugegen gewesen war.
Die Entscheidungsfindung am schwedischen Appellationsgerichtshof analysiert Mia Korpiola aufgrund einer Entscheidungssammlung aus dem Jahr 1636. Das Gericht bestand aus einem 14-köpfigen, in drei Ständeklassen eingeteilten Kollegium. Die Hauptlast der Sitzungstätigkeit und Berichterstattung wurde von den bürgerlichen Beisitzern der 3. Klasse getragen. Die Entscheidungen ergingen zumeist einstimmig. Wenn überhaupt Rechtsquellen zitiert wurden, dann die Schwedischen Rechte, gelegentlich auch frühere Entscheidungen des Gerichts.
Den beiden höchsten Gerichten des Alten Reichs widmen sich Tobias Schenk und Peter Oestmann. Schenk untersucht die Vota ad Imperatorem am Reichshofrat. Die Geschäftsganganalyse ergibt, dass der Verfahrensgang maßgeblich vom Präsidium bestimmt wurde. Weiteren Aufschluss über den Entscheidungsprozess geben die Akten allerdings kaum, da sie nur die Beratungsergebnisse mitteilen. Die Voten sollten der Reichskanzlei und den Behördenleitern Gelegenheit geben, in der Zeit zwischen Approbation des Votums und Publikation der kaiserlichen Resolution die erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen einzuleiten. Infolge der ab 1730 einsetzenden Verfahrensänderungen blieb von der Koordinierungsfunktion der Voten kaum etwas übrig und schied der Reichshofrat weitgehend aus den höfischen Kommunikations- und Entscheidungsnetzwerken aus. Die daraus folgende Konzentration auf die judizielle Aufgabe war danach nicht intendiert, sondern unbeabsichtigter Effekt des Bedeutungsverlusts. Politische Einflussnahme auf den Reichshofrat hält Schenk aufgrund fehlender Gewaltenteilung nicht für eine Ausnahme, sondern für einen Dauerzustand. Dem Gericht werde insofern verfassungshistorisch eine Bedeutung zugewiesen, die es nie gehabt habe.
Anders als Schenk kann Oestmann aufschlussreiche Einzelheiten des Entscheidungsprozesses am Reichskammergericht aus den Quellen herausarbeiten. Zu Recht verweist er darauf, dass sich die Entscheidungsfindung nicht nur auf das Endurteil beschränkte, sondern auf dem Weg dorthin (wie in heutigen Prozessen) viele Zwischenentscheidungen ergingen. Zur Vorbereitung des Urteils erstellte ein Assessor eine Relation mit Schilderung von Sachverhalt und Prozessgeschichte, Gegenüberstellung der Lösungsmöglichkeiten und Tenorierungsvorschlag. Auf den Vortrag des Referenten im Assessorenkollegium folgten Beratung und Beschluss des Urteiltenors. Begründet wurde die Entscheidung gegenüber den Parteien nicht. Ob man später anders verfuhr, ist offen. Weiteren Aufschluss über die Entscheidungsabläufe versprechen die noch auszuwertenden von mehr als 50 Assessoren erhalten gebliebenen Handakten.
Der Beitrag André Krischers analysiert die Entscheidungsfindung am englischen Court of Chancery in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Dabei wird "Entscheiden" als "distribuierte und akkumulierende von unterschiedlichen Akteuren vollzogene Aktivität" definiert und festgestellt, dass sich die Rolle des Richters auf eine "symbolisch expressive Funktion" beschränkt habe und die Entscheidung keine individuelle Leistung gewesen sei, sondern erheblich auf Vorleistungen anderer Akteure beruht habe. So sehr es zutrifft, dass eine "Entscheidung des Gerichts" in komplexen Verfahren ohne Ausstattung, Mithilfe des Gerichtspersonals und Mitwirkung der Parteienvertreter nicht zu denken ist, so sehr bleibt fraglich, ob Krischers Einschätzung der "entscheidenden Rolle" des oder der Richter gerecht wird bzw. verallgemeinerungsfähig ist.
Im letzten Beitrag untersucht Martin Löhnig die Rechtsprechung des Reichsgerichts in Zivilsachen zwischen 1871 und dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs am 1.1.1900. Es geht dabei weniger um die Entscheidungsfindung als um die Methoden, mit denen sich das Gericht in den Dienst der Rechtsvereinheitlichung stellte. Hebel waren u.a. vermeintliche Auslegungsfehler der Vorinstanz, das (angebliche) Übersehen gemeinrechtlicher Grundsätze und die vorweggenommene Anwendung künftigen Gesetzesrechts.
Die Frage nach dem Zustandekommen gerichtlicher Entscheidungen wird in diesem Band erstmals in breiter Form angegangen. Er bringt deshalb mehrfachen Erkenntnisgewinn, indem er viel Neues oder wenig Bekanntes erschließt und bereits Bekanntes vertieft. Der epochenübergreifende, rechtsvergleichende Ansatz führt dem Leser plastisch Unterschiede und parallele Entwicklungen in zeitlicher und räumlicher Hinsicht vor Augen. Dabei werden sowohl die Grenzen einer Erschließung der Entscheidungsprozesse aus den Quellen deutlich als auch noch offene Fragen aufgezeigt. Künftige Auseinandersetzungen mit der Frage nach den Mechanismen gerichtlicher Entscheidungsfindung werden an dem Tagungsband nicht vorbeikommen.
Franz Dorn