Will Rogers / Christopher Michael Roman (eds.): Medieval Futurity. Essays for the Future of Queer Medieval Studies (= New Queer Medievalisms; Vol. 1), Berlin: De Gruyter 2020, VIII + 227 S., ISBN 978-1-58044-327-2, EUR 86,95
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Ausgehend von einer Sektion auf dem Sewanee Medieval Colloquium in Tennessee (2016) haben die zwei Herausgeber eine Sammlung von einschlägigen Studien zusammengestellt, die neue Wege für Queer Studies einschlagen wollen. Sie distanzieren sich bewusst von der traditionell binären Opposition von Hetero- und Homosexualität im Mittelalter und betonen stattdessen das Element von Queer, worunter eine Menge an verschiedenen hermeneutischen Ansätzen zu verstehen sei, die keineswegs konsistent oder eindeutig sein müssen. Vielmehr bedeute Queer hier letztlich, dass alle traditionellen Normen der Hermeneutik verdrängt werden, um neue kritische Perspektiven zu entwickeln. Dies impliziert konkret, dass ganz unterschiedliche Schwerpunkte gesetzt, dass alle traditionellen wissenschaftlichen Kriterien beiseite geschoben werden sollen, damit ein Ziel erreicht werden kann: das "understanding of the sexual encounter as precisely the body and ego's undoing" (Zitat von E. Freeman, Time Binds, 2011). Laut Karma Lochrie (2005) sei Heteronormativität noch nicht im Mittelalter anzutreffen, weswegen, so die Herausgeber, die Absicht hier bestehe zu überprüfen, wie Natur, die angeblich oftmals das Unnatürliche hervorbringe (!), den Sexualitätsdiskurs bestimmt habe (3).
Der Band gliedert sich in drei Abschnitte, wobei sich der erste gleichgeschlechtlicher Liebe im schulischen Kontext widmet, der zweite höfischen Versromanen, und der dritte ungefähr dem gleichen Thema in englischen Werken des Spätmittelalters. Eine Einführung und ein Epilog rahmen den Sammelband ein.
Laut Michael Johnson lasse sich im mittelalterlichen Grammatikunterricht eine deutliche Spur hin zur sexuellen Perversion nachweisen, insoweit als die einschlägigen Autoren wie Priscian und Donatus und später Alanus ab Insulis u.a. als Homosexuelle identifiziert werden. Dass Grammatik und ihre Behandlung im Unterricht strittig diskutiert wurde, lässt sich vielleicht bestätigen, aber inwieweit dies dann zu Queer-Perspektiven führen mag, wenn beispielsweise Venus evoziert wird, bleibt ziemlich schleierhaft. Will Rogers bemüht sich dann um eine kritische Interpretation der Traumvision Altercatio Ganimedis et Helena, indem er mysteriös queer als "art of failure" (40) beschreibt. Es wäre hilfreich gewesen, zumindest eine literarhistorische Einführung zu bieten, aber noch nicht einmal genaue Bemerkungen zur handschriftlichen Überlieferung ("a number of manuscripts", 45) finden sich. Sexuelle Lust lässt sich natürlich überall ausgedrückt wahrnehmen, wenn man nur den Blick darauf richtet, aber wieso dann alles plötzlich "queer" sein soll, was niemals spezifisch definiert wird, bleibt völlig unklar, vor allem wenn hier die Rede davon ist, dass Raum und Zeit neuartig konstruiert würden.
Dass Guillaume de Lorris als große Autorität des Liebesdiskurses anzusehen ist, braucht nicht weiter erwähnt zu werden, was aber "queer" am Roman de la rose sein soll, lässt sich nicht so leicht beantworten, obwohl Joseph Derosier sich eifrig darum bemüht. Ein Satz verdient aber zitiert zu werden, weil er leider so gut wie gar nichts sagt: "The queerness embraced here frames desire as always seeking to uncover the uncoverable, to unmask the unmaskable" (61). Der Leser der Narcissus-Geschichte würde vom Dichter verleitet, "to misgender Narcissus" (75), was bei dieser Interpretation vielleicht ein neckischer Spaß sein soll. Immerhin, am Ende steht doch deutlicher die These, dass Queerness darauf abzielen solle, alle Kohärenz und Identität zu verstoßen und unerklärlich zu werden (81). Genau das charakterisiert leider den ganzen Band!
Lynn Shutters versucht, im Livre du Chevalier de la Tour Landry pour l'enseignement de ses filles von Geoffroy de la Tour Landry (spätes 14. Jahrhundert) Queerness zu entdecken, obwohl doch die patriarchalische Perspektive des Autors genau das Gegenteil (aber wovon?) betone. Shutters versteht schon genau die männlichen Intentionen hinter diesem Text, versucht aber, freilich nicht recht überzeugend, dahinter queere Haltungen zu entdecken, vor allem durch die kritische Lektüre des Kapitels über Lots Frau (94ff.). Trotzdem schließt die Autorin mit der Beobachtung, dass die Ehefrau des Ritters konkret Ehepolitik verfolge, während ihr Mann an die fin amor denke (104).
Maud McInerney bemüht sich um eine queere Interpretation des Roman d'Enés (sic!, gemeint ist: Enéas) und des Roman de Troie, aber vielleicht ist ja der Tippfehler ein philologischer Scherz, um die Queerness auch im Sprachlichen zu praktizieren. Natürlich erhebt die Königin den Vorwurf gegen Enéas, er sei ein Homosexueller, aber dies ist doch nur eine rhetorische Strategie und besagt letztlich gar nichts, denn der Protagonist beweist sich genau als das Gegenteil. Wieso der Roman de Troie in seiner Gestaltung von Liebe scheitere, bleibt letztlich unergründlich, wie so vieles andere auch.
In der dritten Gruppe beginnt Margaret Cotter-Lynch mit einer Untersuchung des altenglischen hagiographischen Life of St. Mary of Egypt, um die Unendlichkeit sexueller Identitäten, wie sie im Mittelalter projiziert worden seien, herauszuarbeiten. Hochinteressant, wirklich, aber was sollen solche theoretischen Spielereien, handelt es sich doch hier um Heiligenfiguren, die ihre sexuelle Identität aus religiösen Gründen zu verbergen versuchten? Gewiss, Maria von Ägypten bemühte sich, sich von ihrer früheren Sündhaftigkeit zu befreien, indem sie gänzlich jeglicher sexuellen Aktivität entsagte und sich ganz Gott widmete, aber hierbei von "gender ambiguity" (137) zu reden, geht doch weit über das Mögliche hinaus. Religiöse Strategien der persönlichen Heilsfindung werden hier verwechselt mit vermeintlich narrativen Bemühungen, die Geschlechtsidentität aufzuheben, also Queerness zu erreichen (149).
Micah Goodrich versucht, Chaucer's Canterbury Tales queer zu lesen, so "The Pardoner's Tale", indem er behauptet, all die verschiedenen Hinweise auf Geldbörsen, Säcke oder Tüten im Text unterstrichen eine Queerness, eine "Charybdian cavity" (154). Der Geldbeutel sei ein Symbol für "transactional productivity" (154) bzw. sei eine sich selbst behauptende Höhlung (155), denn "the purse also connotes excess because of its capacity to withhold things from social circulation" (155). Einzelheiten der weiteren Analyse können wir uns hier ersparen, obwohl es schon vergnüglich wäre, noch mehr Zitate zu bieten, fast schon eine Stilblüte nach der anderen. Haylie Swenson versucht dann ihr Glück mit einer queeren Interpretation von Chaucers "Squire's Tale", wo signifikante Tiere eine wichtige Rolle spielen, ohne dass dies wirklich dazu beitragen würde, der Dichtung neue Aussagen zu entlocken. Mensch-Tier-Beziehungen spielen hier gewiss eine wichtige Rolle, was die Autorin dazu verführt, sogleich von angedeuteten Möglichkeiten von "homoerotic and heterospecies relationships of care" (195) zu sprechen.
Zuletzt versucht sich Michelle M. Sauer an Queerness, indem sie die Rolle der Seitenwunde Christi für Mystikerinnen diskutiert, die Autorinnen wie Katharina von Siena nicht nur als Ort des Schutzes, sondern auch als Ort von erotischer Wunscherfüllung diente (204), denn die Wunde zeigt ja meist die Form einer Vagina, womit Christus feminisiert worden sei (z.B. in BL. MS Egerton 1821). Von hier ist es dann nicht mehr weit, die Berührung dieser Wunde mit den eigenen Lippen als eine Form der Masturbation zu bezeichnen, die während der "queer time" (217) durchgeführt wurde. Es lohnt sich, zuletzt noch ein Zitat anzubringen, um wirklich in den vollen Genuss der verwendeten Sprache zu kommen: "The idea of queer time, coupled with explorations of queer space and homospatiality, engage the possibility of same-sex desire in such an encounter, which increases our understanding of the polyvalent, ambiguously gendered, intersexed Christ that dominated late medieval Incarnational theology" (217).
Der Band schließt mit Kurzbiographien der Beiträger und einem Index. Ohne Frage, der Verlag hat ein technisch ausgezeichnetes Buch produziert, das auf dem vorderen Einband mit einer köstlichen Abbildung von zwei grotesken Figuren aus einem Pariser Stundenbuch des Jean de Berry (BnF, ms. lat. 915, fol. 82) geschmückt ist. Alles, was man von einer solide edierten Anthologie erwarten könnte, findet sich hier zumindest formal gesehen, aber man weiß nicht so recht, ob man am Ende lachen oder weinen soll.
Nehmen wir an, dass die Thematik an sich aussagekräftig ist, fällt doch sehr stark ins Auge, dass hier erneut fast nichts anderes die Aufmerksamkeit erregt als englische und französische Werke des Mittelalters. Das Deutsche Reich, die Iberische Halbinsel, Skandinavien, vom slawischen Bereich ganz zu schweigen, existieren einfach nicht. Dementsprechend einseitig und kurzsichtig sind auch jeweils die Bibliografien jedes einzelnen Aufsatzes gestaltet. Es handelt sich um hochgradig theoretisch fundierte Studien, bei denen stets die Gefahr besteht, dass der Bezug zu den Primärquellen verloren geht, aber diese werden sowieso eigenständig neu gelesen, ob dies nun rational oder vernünftig ist oder nicht. Leider wird in den letzten Jahren auf den großen Mittelalter-Tagungen immer mehr solcher Unsinn verzapft, und wenn, um auf den Buchtitel zurückzukommen, dies die "Futurity" unseres Faches ausmachen sollte, wird es sehr erbärmlich um uns bestellt sein.
Albrecht Classen