Francesca Weil: Uns geht es scheinbar wie dem Führer... Zur späten sächsischen Kriegsgesellschaft (1943-1945) , Göttingen: V&R unipress 2020, 263 S., ISBN 978-3-8471-0993-8, EUR 35,00
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Es ist ein ebenso eindrückliches wie ambivalentes Bild des Kriegserlebens der deutschen Bevölkerung, das Francesca Weil in ihrer Untersuchung zur sächsischen Kriegsgesellschaft zwischen 1943 und 1945 fundiert zeichnen kann.
Die Historikerin folgt dabei den Pfaden, die schon Nicholas Stargardt in seinem monumentalen Werk zum Zweiten Weltkrieg beschritten hat. [1] Dennoch liegt in ihrer quellengesättigten Fallstudie zu Sachsen ein großer Mehrwert, der mit dem Forschungsdesiderat zum Kriegserleben der sächsischen Bevölkerung im Untersuchungszeitraum einhergeht. Die Kriegserfahrungen und die sozialen Ausdrucksformen unterscheiden sich zwar nicht prinzipiell von dem Geschehen an anderen Orten. Dennoch liegt das Potential der Studie nicht allein in einer Forschungslücke. Vielmehr eröffnet die spezifische Situation in Sachsen einen ebenso berechtigten wie lohnenswerten Einblick: Der Krieg kam spät, aber "immer rasanter" (14) in eine Region, die lange Zeit vergleichsweise wenig unter Bombenangriffen zu leiden hatte. Nach Sachsen gelangten immer mehr Zwangsarbeiter, Flüchtlinge und schließlich Opfer von Todesmärschen. In der Endphase ereigneten sich verlustreiche Kämpfe zwischen der Wehrmacht und der Roten Armee, wobei viele Menschen auf eine Besetzung durch US-Truppen hofften. Profitieren kann die Studie auch davon, dass die Autorin über den 8. Mai 1945 hinausgeht. Sie behandelt auch den Übergang von Besetzung zu Besatzung sowie die gesellschaftliche Situation während des Besatzungswechsels zwischen den US-Amerikanern und der Sowjetischen Militäradministration in Westsachsen.
Der Studie liegt ein klarer Gesellschaftsbegriff zugrunde: Francesca Weil begreift "Personen und Personengruppen als gesellschaftliche Akteure mit eigenen Motivationen, Initiativen, sozialen Interaktionen und Handlungsspielräumen" und untersucht ihre "Teilhabe" und "Teilhabemöglichkeiten" am Nationalsozialismus sowie die "Formen zu leben, aber auch zu überleben" (12). Das Personenspektrum, in das die Autorin anfangs einführt, deckt die Breite der sächsischen Bevölkerung ab: Führungspersonen des Regimes vor Ort, Bürgerliche und Beamte, Angehörige der Arbeiterschicht, aber auch Kinder und Jugendliche sowie zur Zwangsarbeit verpflichtete Menschen und zwei Jüdinnen. Die Angehörigen der deutschen Mehrheitsgesellschaft aus Stadt und Land waren dabei sowohl überzeugte Nationalsozialisten als auch opportunistisch-veranlagte oder regimekritische Personen. In dieser "Vielfalt" (15) - insgesamt sind es 31 Akteure - liegt eine der wesentlichen Stärken der Studie. Primär sind es Erinnerungen, Tagebücher und Briefe, durch die Francesca Weil die sozialen Wahrnehmungen und Reaktionen, aber auch die Verschiebungen und Veränderungen der Haltungen untersucht. All dies ordnet sie plausibel in die makrohistorischen Kontexte ein. Sie nutzt dabei nicht nur teils unveröffentlichte Dokumente, sondern konnte auch selbst Gespräche mit Zeitzeugen führen.
Das titelgebende Zitat "Uns geht es scheinbar wie dem Führer" geht auf eine ostsächsische Nationalsozialistin zurück, die damit im November 1943 angesichts alliierter Luftangriffe, kriegsbedingter Belastungen und militärischer Niederlagen ein "Unglücksjahr" (82) erkannte. Dies schrieb sie ihrem Mann, einem Justizinspektor im Generalgouvernement. Als schmissiger Buchtitel steht das Zitat zwar teilweise dem Ansatz einer Vielstimmigkeit der Akteure entgegen, zu denen schließlich auch Zwangsarbeiter und Verfolgte gehören. Dennoch besitzt es eine Berechtigung, verweist Francesca Weil so doch auf die Selbstverortungen, das "Selbstmitleid" und den passiven wie "verzweifelten Durchhaltewillen" (242) der meisten Deutschen.
Die Autorin gliedert die Arbeit - neben Einleitung und Resümee - in fünf Untersuchungsabschnitte, die sich inhaltlich am Kriegsverlauf orientieren. Wer das Inhaltsverzeichnis aber für ein rasches Konsultieren konkreter Themenbereiche aufschlägt, wird enttäuscht sein: Francesca Weil hat sich entschlossen, primär Zitate als Kapitelüberschriften zu wählen, was auch für die Unterkapitel gilt. Zur Orientierung dienen allenfalls die chronologischen Angaben der fünf Abschnitte mitsamt knapper Benennung der wesentlichen Ereignisse (Januar bis November 1943; Dezember 1943 bis Juli 1944; Juli bis Dezember 1944; Januar bis Mitte Mai 1945; Mitte April bis Juli 1945). Diese Entscheidung erschwert es leider, sich in dem Buch zurechtzufinden. Der Aufbau irritiert auch deshalb, weil die Autorin selbst "analytische und systematische Schwerpunkte" (12) setzt. Eine explizitere Rückbindung dieser Schwerpunkte an die Überschriften oder Unterkapitel der Gliederung wäre hilfreich gewesen. Gleichzeitig kann die Autorin aber - und hier ergibt ihre Kapitelbenennung durch die Quellenzitate durchaus Sinn - damit eines der zentralen Anliegen ihrer Studie in die Gliederung einfließen lassen: Sie rückt in dichter Beschreibung das Kriegserleben und die Deutungsformen der sächsischen Bevölkerung in den Mittelpunkt.
Die Untersuchung der identifizierten "Erlebnisse, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Reflexionen" (15) gelingt Francesca Weil überzeugend. Trotz der Schwerpunktbildungen behandelt sie eine Vielzahl von Kontexten, von denen einige nur knapp auftauchen. Andere Themen werden systematischer und chronologisch verfolgt. So durchzieht die Studie etwa, wie Menschen immer wieder versuchten, "die Kriegsbelastungen im Privaten mit unpolitischen Mitteln zu bewältigen" (134). Routinen und Sehnsucht nach Unterhaltung und Normalität in Kino oder Zoo verbanden sich mit den Angeboten des Regimes. Der Kontrast zum täglichen Leid der Juden und Zwangsarbeiter, das Francesca Weil ebenso behandelt, war groß. Doch wurden die Dimensionen von Verbrechen, Verstrickung und Verantwortung von den meisten Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft negiert oder schlicht ignoriert. Auch die krisenhaften Erscheinungen sind ein Thema: Gerüchte, etwa nach Kriegsende angesichts der Fragen um sowjetische oder US-amerikanische Besatzung, bilden für die Autorin einen Zugang zu "den Wünschen und Hoffnungen der Menschen" (208). Nicht zuletzt durch Paar-Korrespondenzen kann sie persönliche wie politische Erwartungen herausarbeiten. Auch Ängste prägten zunehmend die Situation vieler - und diese Ängste verweisen durchaus auf Mitwisserschaft und Verantwortung: Francesca Weil stellt etwa fest, wie als "Racheakte" empfundene Ereignisse - nicht zuletzt die Vergewaltigungen durch Rotarmisten - "der Erwartungshaltung vieler Menschen" (188) entsprachen. Dazu gehörten auch die Luftangriffe als Gesprächsthema: Als "Grund für die Bombardierung" folgten viele Menschen, vom Regime geschürt, einem antisemitischen Ressentiment, wonach "ein hasserfüllter Feind" (108) - der Jude - hinter den Angriffen stünde.
Insgesamt kann Francesca Weil eindrucksvoll argumentieren, dass die Bevölkerung Sachsens "keinesfalls zu einer geschlossenen Gemeinschaft" geworden war. Vielmehr hatten "die individuellen Kontakte und Beziehungen" (247) an Bedeutung gewonnen. Die gut verständliche Studie belegt auf diese Weise, wie unterschiedlich das Kriegserleben sein und welche Handlungsoptionen die Menschen selbst in der Kriegsendphase noch haben konnten. So breit und tief der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg bereits erforscht sein mögen: Dem Ansatz von Francesca Weil mit aktuellen sozial-, kultur- oder kommunikationsgeschichtlichen Anregungen zu folgen, erscheint als ein lohnendes Ziel.
Anmerkung:
[1] Nicholas Stargardt: Der deutsche Krieg. 1939-1945, Frankfurt am Main 2015.
Felix Berge