Harald Derschka (Bearb.): Quellen zur Wirtschaftsgeschichte der Abtei Reichenau aus der Zeit Johann Pfusers von Nordstetten als Großkeller (1450-1464) und Abt (1464-1491). Gedenkbuch - Urbare - Ordnungen (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe A: Quellen; Bd. 64), Ostfildern: Thorbecke 2022, XL + 373 S., 30 Abb., ISBN 978-3-7995-9564-3, EUR 35,00
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Johannes Schaber (Hg.): Mit Gott in eine gute Zukunft übersetzen. 1250 Jahre benediktinisches Mönchtum in Ottobeuren, St. Ottilien: EOS Verlag 2022
Mit der vorliegenden, von Harald Derschka bearbeiteten Edition zur Wirtschaftsgeschichte der Benediktinerabtei Reichenau im 15. Jahrhundert wird das bisher gültige Bild bei Zeitgenossen und Geschichtsschreibung über den Großkellner (1450-1464) und späteren Abt (1464-1491) Johann Pfuser von Nordstetten in ein neues Licht und damit auf den Kopf gestellt. Die Reichenauer Historiographie war lange Zeit von der zweibändigen Festschrift geprägt, die Konrad Beyerle 1924 zur 1200-Jahrfeier herausgegeben hatte. Darin formulierte Beyerle: "Vollends zum Verhängnis wurde der Abtei die Mißwirtschaft des Abtes Johann Pfuser von Nordstetten" (XXVII). Vermutlicher Hintergrund dieser Aussage war, dass in Pfusers Amtszeit die Unterstellung des Ordenshauses unter die habsburgische Verwaltung fiel, was das faktische Ende der Reichenauer Selbständigkeit bedeutete (XXIX).
Das hier zu besprechende Werk von Harald Derschka stellt nicht den verschwenderisch-misswirtschaftenden Kellner und Mönchsvorsteher, auf den der Bedeutungsverlust des Klosters im Spätmittelalter zurückzuführen war, heraus, sondern den "kleinlichen Haushälter, der gezielt in Weinbau und Viehhaltung investierte" (Vorwort). Der über 41 Jahre hinweg klösterliche Spitzenämter ausfüllende Pfuser konnte strukturelle Probleme der Abtei sowie Fehlverhalten früherer Äbte in seinen Regierungsjahren nicht ausgleichen. Derschka betont, dass unter allen Reichenauer Äbten des 15. Jahrhunderts Pfuser der Wirtschaft bei weitem die meiste Aufmerksamkeit und Energie widmete (XXIX). Möglicherweise litt das Kloster unter dem (vermutlichen) Adelsprivileg des Konvents. Als Großkellner legte er das "Gedenkbuch" an, in das materiell verwertbare klösterliche Rechte und Belastungen eingetragen wurden. In dessen Entstehungszeit fällt zudem die Anlage eines Gesamturbars, das in der Neuzeit zerschnitten und an verschiedenen Orten archiviert wurde. Dabei ging mindestens ein Faszikel verloren; der fehlende Inhalt konnte über andere Aufzeichnungen teilweise ergänzt werden.
Die landwirtschaftliche Spezialisierung einzelner Betriebe förderte der Abt, außerdem investierte er in Rückkauf und Neuerwerb zahlreicher Weinzehnten im Klosterumfeld der Reichenau, und führte eigenhändig Buch. Zwischen 1476 und 1483 erstellten Pfuser und sein fünfköpfiger adliger Konvent ("conuentherren", 298), mit Unterstützung der Reichenauer Gemeinden, der Städte Konstanz, Überlingen und Zürich sowie des Herzogs Sigmund von Österreich vier Ordnungen, die die Klosterökonomie (Klosterhaushalt) regelten und zum Ziel hatten, Ausgaben zu begrenzen und Einnahmen sicherzustellen, zumal vor Amtsträgern, die vom Herzog von Österreich als Schirmherren des Klosters bestellt wurden (Vorwort sowie Kap. VIII). Aus den Einnahmen wurde der Lebensunterhalt des sechsköpfigen Konvents sowie weiterer 17 Personen (ein Kaplan, Mesner, Schreiber, Kammerdiener des Abtes, Untervogt, berittener Knecht mit bis zu drei Pferden, Koch, Bäcker, Fischer, eine Viehmagd und der Torwart, 298) bestritten.
Abt Johann Pfuser "in der Reichenauer Geschichte einen Ehrenplatz als herausragenden Ökonom einzuräumen" ginge zu weit, stellt Derschka fest (XXX), da dessen Fähigkeiten klar hinter seinem Fleiß zurückblieben. Das Fehlen jeglicher Systematik, unklare und lückenhafte Aufzeichnungen sowie fehlende Kosten-Nutzen-Rechnungen entsprechen der Wirrnis und Unvollständigkeit in den Rechnungsunterlagen (XXX). Zwar, so Derschka, spitzten sich die negativen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen, die das Ende der selbständigen Abtei Reichenau herbeiführten, in der Amtszeit des Abtes Pfuser krisenhaft zu. Aber diese Entwicklung war nicht die Folge seiner Nachlässigkeit oder gar seines Unvermögens (XXXIX).
Nicht mit den formalen Defiziten des Abtes begründet, will Derschka die klösterliche Entwicklung einordnen: Pfuser trat seine Aufgaben als Großkellner und Abt vielmehr unter Umständen an, die er nicht ändern konnte: 1. die problematische Verschuldung des Ordenshauses, sowie 2. die herrschaftliche Zweiteilung des westlichen Bodenseeraumes zwischen Habsburg und den Eidgenossen, die wenig Platz für die eigenständige Entwicklung des Konventes bot (XXX).
Die Abtei Reichenau bestand bis 1540, das Kloster bis 1757. Die Reichenauer Territorialherrschaft überdauerte in den seit dem 15. Jahrhundert geschaffenen Konturen als Teil des Hochstifts Konstanz bis zur Säkularisation.
Die vorliegende Edition gibt zur wirtschaftlichen Situation der Abtei Reichenau nur bedingt Auskunft, da sich zumindest für das 15. Jahrhundert weder Inventar- noch andere Vermögenslisten finden, die zu einem Gesamtwert des Klostervermögens verdichtet werden könnten. Ein kurzer Hinweis auf die bei den Säkularisationen von Abtei, Kloster bzw. Territorialherrschaft vorhandenen Vermögenswerte fehlt. Die klösterlichen Akteure begegneten den wirtschaftlichen Schwierigkeiten, ohne die vorhandene Substanz zu nutzen, so das Urteil Derschkas (XXXIV). Die klösterliche Schuldenproblematik (XXI-XXXVII), als Zinssatz wurden im Regelfall fünf Prozentpunkte gefordert, zu dessen Beseitigung u.a. die Errichtung einer eigenen klösterlichen Münzstätte ins Auge gefasst wurde, begründet der Bearbeiter mit dem Fehlen einer echten Strategie (XXXIV) zur Vermögensoptimierung. Die Abtei Reichenau hatte bereits im Hochmittelalter Münzen geprägt, seither jedoch keinen Gebrauch mehr von ihrem Münzrecht gemacht (XXXV).
Im "Gedenkbuch" und in den "Ordnungen" finden sich Hinweise auf Waldeigentum des Konvents (z. B. "item hat apt Frydrich das Holz zu Allenspach genannt Ebnott gekauft um 500 Pfund Heller", 98 oder: "ein Großkellner soll alles zum Holz wissen", 300), schließlich auch im "Kaltenbrunner Urbar" ("soll die Hölzer unwuestentlich halten", 247). Waldbesitz weist gelegentlich auf "versteckte" Vermögensanlagen hin. Zudem sind Aussagen von Abt oder Großkellner über die zu "hohe Schuldenlast" bei nur geringen Einnahmen nicht in jedem Fall wörtlich zu nehmen, insbesondere dann, wenn eine weltliche Instanz Einblick in und Einfluss auf (hier der Herzöge von Österreich) das klösterliche Handeln nahmen oder nehmen konnten. Derschka macht auf den Verlust der Reichenauer Herrschaft und deren Eingliederung in das habsburgische Machtgefüge aufmerksam.
Aus Zisterzienserklöstern wissen wir, dass dort Einnahmen regelmäßig zu niedrig oder gar nicht verzeichnet wurden und Hausverkäufe nicht aus Geldnot erfolgten, sondern um einen (nicht vorhandenen) Notstand vorzutäuschen (Reinfeld, Aldersbach, Fürstenfeld, Fountains Abbey).
Als Vorbild der Edition dienen der Editionsplan des Chartularium Sangallense und die Richtlinien für die Edition mittelalterlicher Amtsbücher des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine. Ziel seiner Edition, so Derschka, war es, "die Quellentexte nachvollziehbar zu gliedern und zu gestalten" (XL). Die Transkription erfolgte buchstabengetreu.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft DFG finanzierte in den Jahren 2018 und 2019 die Entstehung der vorliegenden Arbeit. Sie schließt damit an die Reichenauer Lehnbücher der Äbte Friedrich von Zollern (1402-1427) und Friedrich von Wartenberg (1428-1453) an, die bereits als Band A 61 (2018) erschienen sind. Die Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg hat den empfehlenswerten und detailreichen Band in ihre Quellenreihe als Band A 64 aufgenommen.
Klaus Wollenberg