Maria Dörnemann: Plan Your Family - Plan Your Nation. Bevölkerungspolitik als internationales Entwicklungshandeln in Kenia (1932-1993) (= Studien zur Internationalen Geschichte; 45), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2019, X + 356 S., ISBN 978-3-11-061434-3, EUR 54,95
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Maria Dörnemanns aus ihrer Tübinger Dissertation hervorgegangenes Buch widmet sich einer von der Forschung oft angesprochenen, aber bislang nicht in solcher analytischen Tiefe behandelten Thematik: der Bevölkerungspolitik eines sogenannten Entwicklungslands. Die Herausbildung, die Hochphase und den Bedeutungsverlust der Bevölkerungspolitik als zentraler Form des "Entwicklungshandelns" im 20. Jahrhundert nimmt die Autorin konkret am Beispiel des Territoriums des heutigen Kenia in den Blick. Ihr Untersuchungszeitraum reicht von der Zwischenkriegszeit bis in die 1990er-Jahre. Er ist bevölkert von Wissenschaftlern, von Kolonialverwaltungen, internationalen Organisationen, nationalen und lokalen Politikern - also von einer Vielzahl von Akteuren, die das Thema Bevölkerung für sich entdeckten und diese Entdeckung in Auseinandersetzung miteinander in Handlungskonzepte übersetzten. Konkret verfolgt Dörnemann die (Über-)Bevölkerungsfrage in drei Großkapiteln von ihrem Aufkommen während der britischen Kolonialphase über die Kopplung von Familienplanung und Modernisierung in Form des demografischen Transitionsmodells der Nachkriegszeit hin zur Neuverhandlung von Konzepten wie ländlicher Entwicklung in den 1970er-Jahren und schließlich zum Ende des Entwicklungsdenkens im Zeichen neoliberaler Reformen.
Dörnemanns Darstellung nimmt ihren Ausgang in der Problematisierung "überfüllter" Räume des kolonialen Kenia der 1930er-Jahre. Was lange als Problem lokaler Verteilungen betrachtet worden war, gerann im Zuge einer zunehmenden Formalisierung des Konzepts "Überbevölkerung" zum eigenen Politikfeld - eine Entwicklung, die dem Trend zum szientistischen Interventionismus entsprach. Jedoch zeigt Dörnemann anhand von Debatten, die im Rahmen der 1932 ins Leben gerufenen Kenya Land Commission geführt wurden, dass die Bevölkerungsthematik auch vor dem Hintergrund von Konflikten zwischen den ortsansässigen Kikuyu und weißen Siedlern um Landnutzungsrechte an Dringlichkeit gewann. Hinzu kam die in der Zwischenkriegszeit an Nachdruck gewinnende Forderung an die Kolonialmächte, zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der kolonisierten Subjekte beizutragen. Sie ließ das Interesse an der Sozialstruktur des afrikanischen Landes als einem Faktor des Aufbaus einer exportorientierten Ökonomie wachsen. Einer modernen Bevölkerungspolitik standen indes die rassifizierten Rückständigkeitswahrnehmungen vieler britischer Kolonialadministratoren entgegen. Erst Ende der 1940er-Jahre setzte sich eine universalistische Vorstellung vom Bevölkerungsrückgang als "Strukturmerkmal eines Entwicklungsstadiums" (57) durch. Es gehört zu den Vorzügen von Dörnemanns Arbeit, dass sie immer wieder solche graduellen Übergänge rekonstruiert. So weist sie zwar nicht als erste darauf hin, dass das sich nun etablierende demografische Transitionsmodell von europäischen historischen Entwicklungen abgeleitet und von europäischen Familiennormen überformt war. Aber sie arbeitet entlang von Memoranden des Colonial Office oder des African Survey von 1948 heraus, wie Datenerhebungspraktiken zunehmend von dem neuen Paradigma geprägt waren, was auch die Wahrnehmung Kenias als Nation förderte - und das, obwohl man sich gar nicht einig war über die Frage, ob die kenianische Bevölkerung insgesamt überhaupt wuchs.
Der Aufstieg der Bevölkerungspolitik in den 1950er und 1960er-Jahren verdankte sich einer temporären Interessenkonvergenz. Je fester sich "demographisches Transitionsdenken und Geburtenkontrolle zu einer Modernisierungsformel" (20) verkoppelten, umso mehr erkannten kenianische Politiker nach der Dekolonisierung potenzielle Spielräume in dieser Kopplung. Es kam zu einer "entwicklungspolitischen Übereinkunft" (284). So half das von Organisationen wie dem Population Council oder der Ford Foundation dicht begleitete nationale Familienplanungsprogramm, das Kenia 1965, nur zwei Jahre nach seiner Unabhängigkeit, als einer der ersten Staaten Afrikas einrichtete, westliche, vor allem amerikanische, Experten und Geldgeber ins Land zu locken. Kenia wurde daraufhin zum Modellfall der für internationale Organisationen tätigen Bevölkerungswissenschaftler, zu einem Zeitpunkt, als auch die Warnungen vor einer globalen Überbevölkerung lauter wurden. Die Forscher waren überzeugt, die Reproduktionsrate könne als eine unabhängige Modernitätsvariable isoliert werden und Familienplanung entsprechend als Hebel des Wandels hin zum industriellen Wirtschaftswachstum dienen. Diese von rational choice-Ideen geprägte Theorie wurde auch dadurch plausibel, dass die Experten ein regelrechtes Länder-hopping betrieben, wobei sie überall in der sich "entwickelnden" Welt strukturelle Ähnlichkeiten ausmachten. Und doch arbeitet Dörnemann heraus, dass die demografische Standarderzählung innerhalb Kenias - trotz des Einflusses der internationalen Berater - nie hegemonial war. Gerade bei afrikanischen Wissenschaftlern blieb eine positive Sicht auf traditionelle soziale Formen bestehen. Überdies entfaltete die staatliche Populationskontrolle nie den erhofften Druck. Die internationalen Berater wurden derweil teils Spielball lokaler politischer Auseinandersetzungen.
Mitte der 1970er-Jahre geriet das Modernisierungsparadigma in die Krise. Die kaum zu übersehenden Abhängigkeiten in Weltpolitik und globalem Handel, aber auch innerwissenschaftliche Dynamiken ließen viele Forscher mit wachsender Skepsis auf den angenommenen Zusammenhang zwischen nationaler Wirtschaftsentwicklung und Familienplanung blicken. Im Zuge dieses Paradigmenwechsels gewannen die vermeintlichen kulturellen Besonderheiten der Kenianer neue Bedeutung als Erklärung dafür, dass Anreize für Familienplanung nicht verfingen. Wurde entsprechend diesem neuen Fokus auf Regionalität und Identität für kurze Zeit in einer "Traditionalisierung" der Anreizpraxis die Lösung gesehen, machte in den 1980er-Jahren die Strukturanpassungsideologie von Weltbank und Co. der klassischen Entwicklungsidee den Garaus. Staatlicher Interventionismus wurde zum Teil des Problems erklärt. Was nicht hieß, dass der nun ironischerweise einsetzende Bevölkerungsrückgang in Kenia nicht positiv gesehen wurde: Er versprach, die Streichung "sozialer Initiativen" aufzufangen (314).
Auch wenn vieles an ihrer Gesamterzählung nicht überrascht, besticht Dörnemanns Arbeit durch ihre Genauigkeit, was über manche Redundanz hinwegsehen lässt. Die auf Archivrecherchen in Großbritannien, den USA und Kenia beruhende Studie ist sowohl mit den Wassern einer konstruktivistischen Wissenschaftsgeschichte gewaschen als auch praxeologisch sensibilisiert für die Komplexität (post-)kolonialer/internationaler Kontaktzonen. Anders als der Titel suggeriert - und auch im Gegensatz zur einzigen Abbildung im Buch, die eine Aufklärungsveranstaltung in Kenia zeigt - interessiert sich die Autorin kaum für die alltagsgeschichtlichen Folgen von Familienplanung. Lesenswert ist das Buch auch und gerade für Leserinnen und Leser, die wenig Berührung mit der Geschichte Kenias haben, aber ohnehin aus einem anderen Grund: Auf besonders eindringliche Weise verdeutlicht es die die kurze Blüte - und die Aporien - des globalen Ver- und Angleichens im 20. Jahrhundert.
David Kuchenbuch