Tülay Altun: Das Osmanische Reich in Schülervorstellungen und im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I und II. Eine rekonstruktiv-hermeneutische Analyse von Passungen und Divergenzen unter Berücksichtigung der Bedingungen der Migrationsgesellschaft (= Mehrsprachigkeit; Bd. 51), Münster: Waxmann 2021, 563 S., 23 Abb., 17 Tbl., ISBN 978-3-8309-4328-0, EUR 49,00
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Die kulturell-ethnische Heterogenität der Schüler:innen in deutschen Schulen lädt die Bildungsforschung immer mehr zu der Frage ein, wie mit dieser interkulturellen Situation didaktisch angemessen umzugehen ist. In diesem Rahmen steht auch die Ausrichtung des Faches Geschichte, einem klassischen Lernort der nationalen Geschichtsschreibung und der Geschichtskultur, hinsichtlich der Effekte von Migration, Narration und Diversität im Diskurs.
Tülay Altun untersucht in ihrer Arbeit den Geschichtsunterricht unter dem Gesichtspunkt von Migration, im Besonderen die Bedeutung von Vorstellungen von Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund zum Thema Osmanisches Reich für das Historische Lernen, um sie mit einer migrationspädagogischen Perspektive abzugleichen. Sie möchte in ihrer Studie herausfinden, wie sich in Inhalten des Geschichtsunterrichts Mechanismen von Inklusion und Exklusion in divergentem historischem Wissen und entsprechenden Standpunkten widerspiegeln und in welchem Zusammenhang sie zu den Schüler:innenvorstellungen stehen. Dazu führt die Autorin in einer Prästudie leitfadengestützte Einzelinterviews mit Lernenden der Sekundarstufe I und II durch und bedient sich dabei der qualitativen Inhaltsanalyse. Anschließend wird versucht, kollektive Vorstellungen und Haltungen über das Osmanische Reich in Gruppendiskussionen zu rekonstruieren. Zwar gibt es keine neueren expliziten Studien zu Schüler:innenvorstellungen zum Thema, jedoch Analyseperspektiven, die den Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und Geschichtslernen näher beleuchten. Lale Yildirim hat in ihrer Dissertation Daten von Schu?ler:innen der dritten Generation mit tu?rkeibezogenem Migrationshintergrund unter dem Gesichtspunkt von Geschichtsbewusstsein und Integration erhoben. [1]
Tülay Altuns Arbeit hat einen stark sprachanalytischen Zugriff, was sich besonders in der Auswertung der Interviews und Gruppengespräche ausdrückt, wenn Passungen und Divergenzen zwischen Inhalten und ihrer Zugänglichkeit für Schüler:innen als dichotomes Begriffspaar zum Vergleich der empirisch erhobenen Daten herangezogen werden. Zentral nimmt die Autorin an, dass Schüler:innen vielfältige Vorstellungen von historischen Ereignissen in den Geschichtsunterricht mitbringen, die unter anderem unter den Bedingungen der Migrationsgesellschaft entstehen, allerdings nicht immer Berücksichtigung in Gesellschaft und Schule finden. Auf die besondere Bedeutung der Vielfalt von individuellen Geschichten in postmodernen, nationalkonstruierten Gesellschaften im Zusammenhang mit gemeinsamen Erinnerungsbeständen einer Erzählgemeinschaft hat beispielsweise Michele Barricelli hingewiesen, worauf man in dieser Studie hätte eingehen können. [2]
Das dabei entstehende Othering, also das Ausschließen, das Schüler:innen in der historischen Narrativen erfahren, interpretiert Altun als Resultat hegemonialer Strukturen im Geschichtsunterricht (364). Die Schüler:innen würden ihre Vorstellungen zum Osmanischen Reich über kulturelle oder nationale Differenzbegriffe narrativieren, mit denen sie eine allgemeine "strukturelle Logik des gesellschaftlichen Zusammenlebens als gegebene gesellschaftliche Wirklichkeit" annähmen und wobei "Kategorien wie 'Kultur' oder 'Nation' unhinterfragt" blieben (363, 509). Die Autorin kommt zu dem Schluss, dass durch das Othering eine Diskriminierung in Form eines Ausschlusses stattfindet, weil Schüler:innen, wie die Untersuchung zeigt, zu 'Anderen' gemacht und nicht in ihrer Geschichte berücksichtigt werden können. Dahingehend fordert sie, dass im Geschichtsunterricht eine Denationalisierung des nationalgeschichtlichen bzw. europäischen Blicks vorgenommen werden müsste. Konkrete Vorschläge zur Umsetzung dieser Forderung z.B. auf curricularer Ebene werden keine gemacht.
In der Arbeit wird auch das Konzept des Interkulturellen Geschichtslernens als Lösungsansatz begutachtet. Dabei werden die aktuelle Forschungslage zu Trans- und Interkulturalität und die sich entwickelnde Diversity-Forschung allerdings nicht thematisiert. Auch fehlt dem Kulturbegriff eine klare Arbeitsdefinition. Im interkulturellen Lernen würden Differenzen als kulturell bestimmte und damit als konstruierte Verschiedenheit angesetzt. Dadurch würde mit Begriffen operiert, die zur "Konstruktion von Zuschreibungs- und Differenzordnungen" führen würden (126). Ihre eigenen erhobenen Daten jedoch zeigen, dass die Schüler:innen selbst natio-ethno-kulturell kodierte Zugehörigkeitsordnungen konstruieren und diese annehmend in den Geschichtsunterricht tragen. Ein Othering muss also nicht immer von außen herangetragen werden, wenn Lernende sich selbst (und auch Fremde) immer noch sehr plakativ in einigen wenigen, wenn auch konstruierten Zuordnungen mit eigenen Narrativen, beispielsweise als Deutsche, Türken, Russen, Christen, Muslime oder Atheisten, in der Gesellschaft verorten. Dieses Phänomen lässt sich sogar beobachten, wenn dies mit der strukturellen Sozialisation, die sie in Deutschland erfahren, nicht mit der äußeren Zuordnung, die ihnen zuteilwird, übereinstimmt.
Altun attestiert dem aktuellen nordrhein-westfälischen Lehrplan, ebenso wie den untersuchten Schulbüchern nur bedingt Anlässe zur Berücksichtigung des Osmanischen Reich im Unterricht (256, 505). Jedoch ist anzumerken, dass die Kernlehrpläne und auch die Schulbücher von ihren Urhebern mitunter bewusst so offen gestaltet werden, um Lehrkräften vielfältige Zugänge zu bieten, die sie für vielseitig gestalteten Unterricht brauchen. So können bestimmte Themen, wie auch das Osmanische Reich, problemlos curricular legimitiert in den Unterricht mitaufgenommen und behandelt werden. Grundsätzlich ist es schwierig, eine Entwicklung und Förderung von historischem Wissen, zugeschnitten auf individuelle Vorstellungen von Schüler:innen, und institutionelle Inhalte zu historischen Themen in ein Passungsverhältnis setzen zu wollen (523). Dabei allein den Effekt Migration auf die Schülervorstellungen berücksichtigen zu wollen, wäre bei einer kulturell-ethnischen Heterogenität, die im Bundesdurchschnitt bei über 30%, in manchen Städten in NRW bei über 70%, liegt, nahezu unmöglich.
Zwar werden kollektive Strukturierungsprinzipien bei der Konstruktion von Schüler:innenwissen zum Osmanischen Reich, welche erhoben werden können, eruiert, jedoch auf inhaltlicher Ebene nur deskriptiv dargestellt und nicht historisch überprüft. Die erhobenen Schüler:innenaussagen zu Themen und Aspekten der osmanischen Historie hätten in einer historisch-rekurrierenden Auseinandersetzung, um die Zugänge, aus denen diese Annahmen und das Wissen stammen, zu dekonstruieren, näher erläutert werden können. Somit hätte man die historische Triftigkeit und die Quellen dieser individuellen Geschichtsbilder feststellen und volkstümliche Vorstellungen, aus denen viele Schüler:innennarrative stammen, unmittelbar trennen können. Bei einem derart großen historischen Feld wie das des Osmanischen Reiches, das derart komplex und in den Schüler:innenvorstellungen entsprechend nur als rudimentäres Wissen und historische Vorstellung vorhanden ist, kann eine Fallstudie nicht den Anspruch auf Repräsentativität erheben.
Dennoch stellt die Arbeit der Autorin einen wichtigen Beitrag für einen selbstreflexiven und inklusiven Geschichtsunterricht der Zukunft dar, welche die Bedingungen der Migrationsgesellschaft aufgreift und analysiert. Aus dieser Untersuchung wird richtig geschlussfolgert, dass die Kernlehrpläne, die Geschichtslehrwerke, aber auch die institutionelle Lehrerausbildung auf die Anforderungen der Migrationsgesellschaft antworten können müssen. Dabei sollten die individuellen Geschichten von Lernenden in den Vordergrund gerückt und ihre narrative Kompetenz, in Zusammenhängen Geschichte neu zu generieren, berücksichtigt werden. Nur so könnte in einer Gesellschaft mit narrativer Diversität die Grundlage für eine Erzählgemeinschaft mit gemeinsamen Erinnerungsbeständen und Geschichten geschaffen und somit eine kollektive Geschichte erst ermöglicht werden.
Anmerkungen:
[1] Lale Yildirim: Diasporakomplex. Geschichtsbewusstsein und Identität bei Jugendlichen mit türkeibezogenem Migrationshintergrund der dritten Generation, Bielefeld, 2018.
[2] Michele Barricelli: Collected Memories statt kollektives Gedächtnis. Zeitgeschichte in der Migrationsgesellschaft, in: Zeitgeschichte im Geschichtsunterricht, hg. von Markus Furrer / Kurt Messmer, Schwalbach 2013, S. 89-118, hier: S. 104.
Mehmet Oyran