Rezension über:

Oxana Schmies (ed.): NATO's Enlargement and Russia. A Strategic Challenge in the Past and Future (= Soviet and Post-Soviet Politics and Society; Vol. 229), Hannover: Ibidem 2021, 270 S., ISBN 978-3-8382-1478-8, EUR 39,90
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Rezension von:
Hans-Georg Ripken
Universität Mannheim
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Hans-Georg Ripken: Rezension von: Oxana Schmies (ed.): NATO's Enlargement and Russia. A Strategic Challenge in the Past and Future, Hannover: Ibidem 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/36570.html


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Diese Rezension ist Teil des Forums "Die NATO-Osterweiterung und Russland" in Ausgabe 22 (2022), Nr. 10

Oxana Schmies (ed.): NATO's Enlargement and Russia

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"A Europe, 'Whole and Free' will not be possible without Russia" - mit dieser eindrucksstarken Einleitung des russischen Oppositionspolitikers Vladimir Kara-Murza beginnt der ungewöhnliche Sammelband, den Oxana Schmies zu "NATO's Enlargement and Russia" herausgegeben hat. Die fünfzehn Autorinnen und Autoren informieren über teilweise wenig erforschte Aspekte der NATO-Osterweiterung in den 1990er Jahren, analysieren militärstrategische Entwicklungen der vergangenen 30 Jahre und betrachten die Geschichte des Ukraine-Konflikts bis ins Jahr 2021. Dabei sticht das Werk durch die enorme Heterogenität von Beitragenden und Beiträgen heraus. Anders als in vergleichbaren Bänden stehen umfangreiche wissenschaftliche Fachartikel namhafter Historikerinnen und Historiker neben persönlichen Erfahrungsberichten und Rückblicken von Diplomaten sowie Expertinnen und Experten aus den USA, Europa und Russland, die oft selbst an zentralen Verhandlungen der 1990er und frühen 2000er Jahre unmittelbar beteiligt waren. Die vielfältigen Einblicke aus unterschiedlichsten Perspektiven kulminieren in direkten Hinweisen für das weitere Vorgehen im Umgang mit Russland, die trotz der tragischen Entwicklungen seit Beginn des russischen Angriffskriegs am 24. Februar 2022 nur wenig von ihrer Aktualität verloren haben.

Eröffnet wird der Band mit einem historischen Rückblick auf die NATO-Osterweiterung und ihre Hintergründe in den 1990er Jahren. Der russische Abrüstungsexperte Alexey Arbatov beginnt diese Betrachtung mit einer umfangreichen und kompetenten Abhandlung zur nuklearen Abschreckung. In seiner Kernthese verbindet Arbatov das durch die technischen und militärischen Fortschritte seit 1990 verringerte Zweitschlags-Potenzial Russlands mit einem erhöhten Risiko zur nuklearen Eskalation. Aus dieser umfassend begründeten Annahme zieht Arbatov den Schluss, dass neue Abrüstungsverträge zwingend die veränderten militärischen Möglichkeiten nicht-nuklearer Waffen einbeziehen müssen - eine Forderung, die von weiteren Autoren des Sammelbands ebenfalls erhoben wird. Dies sei grundlegend für ein besseres Verhältnis des Westens zu Russland.

Der Sicherheitsforscher Liviu Horovitz schließt mit seinem Beitrag über die britische Position zur NATO-Osterweiterung eine wissenschaftliche Forschungslücke. Auf Basis umfangreicher, jüngst geöffneter britischer Archivquellen, stellt Horovitz die Zerrissenheit der britischen Regierung zwischen dem Wunsch nach Zusammenarbeit mit Russland einerseits und nach Erhalt des als notwendig betrachteten amerikanischen Einflusses in Europa andererseits dar. In der Entscheidung für die Osterweiterung sieht er den grundlegenden Riss zwischen dem Westen und der NATO. In zwei Beiträgen ehemaliger US-Diplomaten, John Kornblum und Steven Pifer, wird anschließend die amerikanische Perspektive dargestellt. Kornblum sucht in seinem Essay nach Lösungen für die gegenwärtige Krise zwischen der NATO und Putins Russland. Dazu stützt er sich auf interessante persönliche Erfahrungen aus den Berlin-Verhandlungen von 1972 und diplomatische, von Pragmatismus geprägte Ansätze des Kalten Kriegs, wobei die Argumentation aufgrund fehlender unmittelbarer Bezüge jedoch nicht immer überzeugt. Pifer hingegen beleuchtet kenntnisreich die drei unterschiedlichen Handlungsbereiche der Clinton-Administration für die Neugestaltung europäischer Sicherheit zwischen Ost- und Mitteleuropa, Russland und der Ukraine. [1]

Im zweiten und kürzesten Teil des Bandes stehen Sicherheitsgarantien als Herausforderung für Mittel- und Osteuropa im Fokus. Dazu wendet der polnische Politikwissenschaftler Marcin Zaborowski zunächst die "Balance of Threat"-Theory von Stephen Walt auf die (rüstungs-)politischen Entscheidungen mittel- und osteuropäischer Staaten an. Ob sich diese Ergebnisse nach Beginn von Putins Ukraine-Krieg weiter bestätigen lassen, wird erst weitere Forschung beurteilen können. Vor einer ähnlichen Herausforderung steht der stellenweise etwas mäandernde Beitrag über den Ukraine-Konflikt bis 2021 von Andreas Heinemann-Grüder. Seine Annahme über mangelnde westliche Sicherheitsgarantien für die Ukraine bestätigte sich inzwischen ebenso wie die Verweise auf eine Verbesserung von Luftverteidigung und Artillerie sowie die Bedeutung von Geheimdienstinformationen in der Ukraine. Dabei nimmt er, wie anschließend die Politikwissenschaftler Mariana Budjeryn und Andreas Umland, beziehungsweise der von der Herausgeberin interviewte ukrainische Ex-Außenminister Pavlo Klimkin (2014-2019), mehrfach Bezug auf das Budapester Memorandum von 1994. Dieses wird als schwacher Kompromiss zwischen westlichen und russischen Sicherheitsvorstellungen dargestellt, dessen Bruch zugleich schwerwiegende, negative Auswirkungen auf die Verbreitung von Nuklearwaffen weltweit haben könnte.

Der dritte Abschnitt des Sammelbandes beschäftigt sich mit Russland als Herausforderung für die Zukunft. Den Anfang macht der russische Politikwissenschaftler Gleb Pavlovsky, der versucht, die Strategie russischer Außenpolitik unter dem Begriff "flanc doctrine" zu erfassen. Putins Ziel sei es demnach, durch eine Vielzahl von "frozen conflicts" sowie der Destabilisierung von Demokratien weltweit einen überhöhten Eindruck russischer Stärke zu erzeugen. [2] Die Aussichten für eine Stabilisierung westlich-russischer Beziehungen beurteilt Pavlovsky ähnlich düster wie seine Kollegen Dmitry Stefanovich und Mikhail Mironyuk in ihrem Beitrag zu den Ursachen dieser Verschlechterung. Ihrer Argumentation folgend, beruht die Krise vor allem auf westlichem Unverständnis für russische Positionen, gegenseitigen militärischen Provokationen sowie dem Fehlen von Abrüstungsverträgen und militärischer Kommunikation. Insbesondere letzterer käme für eine potenzielle Verbesserung der Beziehungen eine zentrale Rolle zu. Leider fehlt eine Berücksichtigung des Ukraine-Konflikts, was diese Betrachtung der Sicherheitsbeziehung zwischen NATO und Russland unvollständig macht.

Den Ruf nach mehr, gerade auch militärischer Kommunikation, nimmt der CDU-Außenpolitiker Roderich Kiesewetter auf. In seinem Essay über Kooperation vs. Konfrontation hebt er die fehlende gemeinsame Vertrauens- und Gesprächsbasis als Grundlage der aktuellen russisch-westlichen Krise hervor. Spannend ist seine Annahme, dass in den 1990er Jahren den Regierungen in Ost und West eine konkrete Perspektive und Vision für das gegenseitige Verhältnis gefehlt habe. Der polnische Außenpolitikexperte Łukasz Adamski analysiert verbreitete Trugschlüsse zu Putins Außenpolitik, deren Auflösung Grundbedingungen eines besseren Verhältnisses sein müsse. Den Abschluss des Kapitels macht Reiner Schwalb, 2011-2018 Militärattaché an der deutschen Botschaft in Moskau, der die militärischen Entwicklungen in Russland zunächst einordnet und ihre tatsächliche Bedrohung für die NATO relativiert. Auch Schwalb betont die Bedeutung offener Kommunikation mit Russland und hofft auf eine Neugestaltung der Sicherheitsordnung auf Basis der Charta von Paris.

Die Komplexität der NATO-Osterweiterung und der im Sammelband untersuchten Aspekte sowie die Vielfältigkeit der Autoren und Beiträge erschwert eine eindeutige Zuordnung des Werkes (aber auch die der Einzelbeiträge zu den drei Teilen des Buches). Den Beiträgen gelingt es jedoch weitestgehend, ihre Relevanz auch nach Beginn des russischen Angriffskriegs und der damit einhergehenden Neubewertung zu bewahren. Zwar wäre für einzelne Artikel ein tieferer Quellenbezug wünschenswert, doch insgesamt überzeugen die Beiträge jeweils für sich. Vielleicht ist es gerade die Unterschiedlichkeit der Perspektiven zwischen akademischen Fachartikeln, persönlichen Erfahrungsberichten und politischen Einschätzungen, die das Werk besonders spannend machen und den Blick erweitern. Schmies' Band verbessert unser Verständnis für die verschiedenen zeithistorischen und politischen Dimensionen der NATO-Osterweiterung und stellt damit für Expertinnen und Experten, wissenschaftlich interessierte Leserinnen und Leser sowie für politische Praktiker eine große Bereicherung dar.


Anmerkungen:

[1] Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit der amerikanischen Haltung zur NATO-Osterweiterung vgl. Mary E. Sarotte: Not One Inch. America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate, New Haven / London 2021.

[2] Ein Eindruck, der von deutschen Ex-Diplomaten geteilt wird. Vgl. Rüdiger von Fritsch: Russlands Weg. Als Botschafter in Moskau, Berlin 2020.

Hans-Georg Ripken