Rezension über:

Jacques Szpirglas: Dictionnaire des musiciens de la cour de Louis XIII et des maisons princières (1610-1643) (= Musicologie; 14), Paris: Classiques Garnier 2021, 1864 S., ISBN 978-2-406-12061-2, EUR 119,00
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Rezension von:
Elisabeth Natour
Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Frühneuzeitredaktion (Sebastian Becker, Bettina Braun, Matthias Schnettger, Lara Luisa Schott-Storch de Gracia)
Empfohlene Zitierweise:
Elisabeth Natour: Rezension von: Jacques Szpirglas: Dictionnaire des musiciens de la cour de Louis XIII et des maisons princières (1610-1643), Paris: Classiques Garnier 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/36899.html


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Jacques Szpirglas: Dictionnaire des musiciens de la cour de Louis XIII et des maisons princières (1610-1643)

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Ludwigs XIII. von Frankreichs Platz in der französischen Kulturgeschichte wird erst in letzter Zeit vermehrt gewürdigt. [1] Es ist das Verdienst von Jacques Szpirglas, dass er dieser Neubewertung eine weitere empirische Basis liefert. In zwei Bänden versammelt sein Dictionnaire des musiciens de la cour de Louis XIII et des maisons princières Kurzbiographien von 620 Musikern im Umfeld des ludovizianischen Hofes und verdeutlicht damit den beeindruckenden Umfang der Musikförderung dieses Königs. Wenn der Klappentext betont, mit dem Werk den Mangel an musikbiographischen Referenzwerken für diese Zeitspanne beheben zu wollen, trifft es das dennoch nicht ganz. Etwa ein Zehntel der von Szpirglas aufgeführten Musiker verzeichnen Einträge im New Grove, der MGG, dem Dictionnaire de la musique en France, oder Brossards Musiciens de Paris. [2] Der Mathematiker Marin Mersenne (1588-1648) setzte den Musikern der königlichen Kapelle, die seinem Patron Richelieu verbunden waren, schon zu Lebzeiten in seiner Schrift De L'Harmonie universelle (1636) ein bleibendes Denkmal. [3] Szpirglas' Auswahl rekurriert schließlich auf die Urkunden-Regesten über die französische Musiker von Madeleine Jurgens. [4] 90 Prozent der von ihm porträtierten Musiker sind dort als Quellennotizen vorgestellt. Und doch - und das gibt Szpirglas Recht - fehlt eine Synthese der vorhandenen Wissensbestände. [5]

Szpirglas erfasst am königlichen Hof musizierende Musiker der drei Institutionen Chapelle, Chambre und Écurie; nimmt sowohl die Musiker des Königs (ca. 200 Biographien), der Königinnen, der Prinzen und Prinzessinnen als auch Musiker von einflussreichen Personen des Hofes auf, die er lapidar als "quelques ducs et pairs de France" (12) bezeichnet. [6] Dem Titel zum Trotz finden auch die Musiker des Duc de Richelieu Eingang in die Bände. Musiker fremder Potentaten werden nicht erfasst. Verwandte Sparten, etwa der Instrumentenbauer, der Musikdrucker, der Kopisten oder auch eine Erklärung zeittypischer Genres, ebenfalls nicht. Szpirglas interessieren Sänger, Instrumentalisten und Komponisten - zuweilen Kapellenschreiber (vgl. "Dumont, Thomas"). Eigene Quellenrecherchen beschränken sich auf in Paris und Online verfügbares Material, der Schwerpunkt liegt auf der Auswertung von Sekundärliteratur.

Der Aufbau der Biographien variiert leicht: Angestrebt ist, die Musiker breit im familiären Umfeld zu verorten (Ehefrauen, Trauzeugen, Kinder, Schwager, Ehefrauen der Schwager und Trauzeugen, vgl. "Legay, Jean"; "Cambefort, Jean de"), bevor die beruflichen Stationen beschrieben werden. Einzelne Musiker erhalten einen Abschnitt zur reputation. Je nach Quellenlage folgt ein Werkverzeichnis. Eine nicht näher erläuterte Auswahl an Quellenregesten und Quellenschnipseln beschließt die Einträge. Ein Personen-Index mitsamt abweichenden Schreibweisen sowie eine Auflistung aller Komponisten und Musiker nach Institutionen ergänzen die biographischen Einträge in separaten Anhängen am Ende des zweiten Bands.

Der praktische wissenschaftliche Ertrag von Szpirglas' Zusammenstellung ist durchwachsen. Es dominieren notarielle Informationen: Dienstherr, Verdienste, Kinder, Kindeskinder, Vermögen, Begräbniskosten. Anekdoten oder Querverweise auf Familienmitglieder in verwandten Berufen, die mehr biographische Tiefe ermöglicht hätten, finden sich nicht, stattdessen wirkt die vereinzelte musikhistorische Würdigung einiger Musiker wie eine Ergänzung an der falschen Stelle. Schwerer wiegt, dass Szpirglas die Biographien "aussi exhaustive que possible" (16) halten möchte - Redundanzen sind die Folge. Szpirglas zitiert zu de Bailly ("Bailly, Henri de") die Druckschriften Mersennes oder die edierten Tagebücher des königlichen Leibarztes Jean Herouard, um dem Eintrag das leicht zugängliche Material nochmals als Anhang beizufügen. Jurgens' Regesten (open access) werden nach nahezu jedem Eintrag mitabgedruckt. Hinzu kommt, dass Literatur und Quellen im Fließtext umschrieben werden, statt dass mit Kurztiteln am Ende gearbeitet wird. Quellenverweise aus der benutzten Literatur werden zusätzlich angegeben. Der Eintrag zu "Testart, Vincent" repräsentiert mit 20 indirekten und vier eigens im Nationalarchiv recherchierten Quellenangaben ein Mittel.

Wesentliche Informationen gehen leicht unter. Im Beitrag zu Henry de Bailly erfährt der Leser, für welche Summe Bailly das Amt des Surintendant de la musique erworben hat, aber dass er dieses Amt in den 1630er-Jahren mit Antoine Boësset teilte, kann ein Leser nur mit Vorwissen einem Quellenzitat entnehmen. Sehr bedauerlich ist, dass die Kapellen der Königinnen nur marginal betrachtet werden. Befremden muss jedoch der Umgang mit Literatur. Szpirglas' Eintrag zu Pierre Guédron ("Guédron, Pierre") referiert den Eintrag John Le Cocqs im New Grove, vertraut aber stärker dem französischen Wikipedia-Eintrag zu Guédron und einer undatierten Ahnenrecherche ohne Quellenangaben, die ein kommunaler Verein ambitionierter Amateurhistoriker ins Netz gestellt hatte. Die bis heute wichtige Dissertation Don Lee Roysters aus den 1970er-Jahren zu Pierre Guédron und Georgie Durosoirs sorgfältige Edition der Airs de Cour übersieht er. [7] Man muss Szpirglas vielleicht zugutehalten, dass er nur Wikipedia-Einträge verwendet, welche ihm nach eigenen Angaben "paraissent solides" (18), doch was ist die Konsequenz? Die Werkauswahl des französischen Wikipedia-Eintrags zu Artus ("Aux-Cousteaux, Artus") übernimmt Szpirglas unverändert, was ungesicherte Zuschreibungen von Messen und eine problematische Aufteilung der Werke zur Folge hat, in der nur Artus' Melanges als weltliche Musik klassifiziert werden.

Szpirglas, der erst nach Abschluss einer langen Karriere als Telekommunikationsingenieur in Musikwissenschaft promoviert wurde, will keine neuen Informationen liefern, sondern Wissensbestände verknüpfen. Wissen "de seconde main" ist für ihn kein Schimpfwort, sondern ein Meer der Möglichkeiten. [8] Sein Nachschlagewerk bietet in der Anhäufung von Literatur und Quellenverweisen Ausgangspunkte, die jedoch leider aufgrund des oft unsicheren wissenschaftlichen Fundaments seines Materials und der fehlenden kritischen Einordnung nur mit Vorsicht zu genießen sind. Ein Eindruck von der Vielfalt musikalischer Tradition in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts erschließt sich dennoch - zum Glück.


Anmerkungen:

[1] Peter Bennett: Music and Power at the Court of Louis XIII. Sounding the liturgy in early modern France, Cambridge 2021; Sean Heath: Sacral Kingship in Bourbon France. The Cult of Saint Louis, London et al. 2021; Georgie Durosoir / Thomas Leconte (Hgg.): Musicien Louix XIII et les musiciens de Louis XIII, Versailles 2003.

[2] Vgl. Marcelle Benoit (Hg.): Dictionnaire de la musique en France aux XVIIe et XVIIIe siècle, Paris 1992; Yolande de Brossard: Musiciens de Paris, 1535-1792. Actes d'état civil d'après le fichier Laborde de la Bibiothèque nationale, Paris 1965. Szpirglas greift zudem häufig auf eine Dissertation zurück, die ich nicht einsehen konnte: Michel Le Möel: Recherches sur la musique du roi de 1600 à 1660, Dissertation masch. Paris: École des Chartes, 1954.

[3] Marin Mersenne: Harmonie universelle, contenant la théorie et la pratique de la musique [...], Paris 1636.

[4] Madeleine Jurgens: Documents du Minutier Central concernant l'histoire de la musique (1600-1650), 2 Bd., Paris 1968.

[5] Vgl. z.B. für England: Andrew Ashbee: David Lasocki (unter Mitarbeit von Peter Holman und Fiona Kisby), A biographical dictionary of English Court Musicians, 1485-1714, Aldershot 1998.

[6] In dem Anhang "Musique du Princes" sind diese Haushalte gelistet (Seite 1806-1811).

[7] Don Lee Royster: Pierre Guédron and the 'air de cour' 1600-1620, PhD diss. Yale University, 1972; Pierre Guédron: Les Airs de Cours, hg. von Georgie Durosoir, Versailles 2009.

[8] Vorgestellt in seiner Dissertation: Prosopographie des musiciens des Saintes-Chapelles de Paris (1248-ca1640) et de Bourges (1405-ca1640), Diss: Universität de Tours, 2015 (http://www.applis.univ-tours.fr/theses/2015/jacques.szpirglas_4493.pdf), 31.

Elisabeth Natour