Joachim Radkau: Malwida von Meysenbug. Revolutionärin, Dichterin, Freundin: eine Frau im 19. Jahrhundert, München: Carl Hanser Verlag 2022, 589 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-446-27282-8, EUR 38,00
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Radkaus Buch über Malwida von Meysenbug (1816-1903) folgt nicht dem vertrauten biographischem Muster. Der Lebensweg wird nicht durchgehend chronologisch erzählt, sondern überwiegend um Personen gruppiert, denn Radkau entfaltet Malwidas Leben in ihrer "Kunst der Freundschaft" (115). Deshalb ist ihr umfangreicher Briefwechsel die Hauptquelle. Sie lebte in einem aus Briefen geknüpften Netzwerk, das sie bis in ihre letzten Lebensjahre ständig erweiterte. Da Radkau nicht nur Malwida, sondern auch ihre wichtigsten Briefpartner und -partnerinnen ausführlich zu Wort kommen lässt, kann er ihr Leben, wie er es gestaltet, zu Recht einen "Spiegel ihrer Zeit" (256) nennen. Allerdings ein scharf fokussierter Spiegel, ausgerichtet auf das gebildete Europa. Es ist eine ideale Lebenswelt, die sie sich erschaffen wollte und zu der nur Individuen Zugang fanden, die sich in dieser Bildungswelt zu bewegen wussten.
Bekannte Persönlichkeiten, mit denen Malwida sich brieflich und teilweise auch im persönlichen Gespräch austauschte, bezeugen ihr "Genie der Freundschaft" (353), wie es eine deutschsprachige Chicagoer Zeitschrift in einer begeisterten Besprechung des Nachdrucks (1899) ihrer "Memoiren einer Idealistin" formuliert hat. Zu nennen sind (neben vielen anderen) Johanna und Gottfried Kinkel, Giuseppe Mazzini, Alexander Herzen und seine Töchter, Friedrich Nietzsche und Paul Rée, Cosima und Richard Wagner mit ihren Kindern, Lady Laura Acton, verheiratet mit dem italienischen Ministerpräsidenten Marco Minghetti, Maria und Bernhard von Bülow, der französische Historiker Gabriel Monod, Alexander von Warsberg, Diplomat, Schriftsteller und Vertrauter der habsburgischen Kaiserin Elisabeth, und schließlich der junge Romain Rolland, mit dem sie im Alter "eine zärtliche, doch streitbare Liebe" (424) unter Geistesverwandten verband. In den Jahren seiner Erfolglosigkeit hatte sie ihm in ihren Briefen das Vertrauen gegeben, zum Schriftsteller berufen zu sein. "Malwida hat mich erschaffen", schrieb er später (424). Stefan Zweig stellte sie in ihrer Bedeutung für Rollands Leben und Werk neben Beethoven und Tolstoi.
"Malwidas Welt- und Lebensanschauung ist kein System mit logischer Stringenz." (230). Idealismus und Naturwissenschaft, "Kult der Individualität" und "Ruf nach dem großen Führer" (253f.), Glaube an den Gott in uns und Sehnsucht nach "Unsterblichkeit durch das Atom" (266), verbunden mit der Hoffnung auf eine Wiedergeburt, die sie sich aber auch als Qual vorstellte. Ihr Wunsch "nach einer mütterlichen Rolle auch ohne Ehe und eigene Kinder" (74) erfüllte sich, als sie mit der Erziehung der Töchter Alexander Herzens betraut wurde. Doch auch als Briefpartnerin war sie vielfach eine mütterliche Beraterin. Gegenüber einer Freundin bestimmte sie "das ewig Weibliche" darin, "in einer geliebten Erscheinung das allgemeine Ideal zu fassen und zu lieben, wir sind ja die Priester der Glücksreligion." (240). Ihr Idealismus war kein theoretisches Konstrukt, sondern eine Lebensform. Ihre "Begeisterung für edle Menschen" (240) bildete die Grundlage für das Kommunikationsnetz, in dem sie lebte. In ihm traf sich eine Bewunderungs- und Verehrungsgemeinschaft. So wurde es jüngst in einer psychologischen Studie gedeutet. [1] In dieser Gemeinschaft, die auf wechselseitige individuelle 'Veredelung' zielte, entstand Vertrauen, das Gegensätze in den persönlichen Überzeugungen aushielt. Mit den Wagners blieb sie lebenslang verbunden, obgleich diese Malwidas Abkehr von der kirchengebundenen Religion verurteilten und sie den Antisemitismus und die Ablehnung der Frauenemanzipation im Hause Wagner missbilligte.
Politisch ist Malwida schwer einzuordnen, und Radkau versucht es nicht. Die Revolutionärin von 1848 ging ins Exil nach London, wo sie bei Herzen komfortabel abgesichert eine neue Aufgabe fand, viele internationale Kontakte knüpfte und über den "Heuschreckenschwarm von russischen und polnischen Flüchtlingen" (111) klagte. Ihre Fortschrittshoffnung geriet in London ins Wanken, und sie fürchtete, im 'Volk', auf das die Demokraten von 1848 gesetzt hatten, habe man "einen neuen Götzen geschaffen" und an die Stelle der zertrümmerten "Ideale und falschen Götter" gesetzt (170). Falls sie eine "aristokratische Demokratin" war [2], so konnte sie es mit "Verachtung für die breite Masse" (408) verbinden, und als ein von ihr bewunderter Brahmane "das Kastenwesen mit einer Wiedergeburt im Sinne der Eugenik" rechtfertigte, leuchtete ihr das ein, und sie dachte an "die frühere Reinhaltung des Stammbaumes in unserem Geburtsadel" (237). Der Einigungskrieg von 1871, den sie begeistert begrüßte, ließ sie zur "Malwida Bismarckowa" werden, wie Herzen sie neckte (159). Ihrer Freundschaft zu Monod und Rolland, die diesen Krieg, seine Wirkungen in Europa und Bismarck ganz anders sahen als sie, schadete das nicht. Als Pazifistin hoffte sie später auf Frieden durch Entwaffnung. Doch sie konnte sich auch für das "kleine Heldenvolk" der Buren in deren Kampf gegen Großbritannien begeistern (455). In einer Zeit, in der sich die nationalen Gegensätze verschärften und radikalnationalistische Strömungen in Europa stark wurden, betonte Malwida in ihrer Korrespondenz mit Rolland, es gebe "etwas oberhalb des Vaterlandes und der Rasse" - "die menschliche Seele" (458). Ihr Vaterland sah sie "in einer ganz idealen Sphäre, die von edlen Geistern wie Göthe [sic], Beethoven, Schiller, Wagner und ihresgleichen bevölkert ist. Dort bin ich noch Deutsche und fühle mich in meinem Vaterland." (456). Leben wollte sie jedoch im Süden.
Ihrem Lebens- und Gesellschaftsideal kam wohl das Zusammenleben mit Nietzsche, Paul Rée und Albert Brenner 1876/77 in Sorrent nahe. "Wir möchten hier [...] eine Gemeinschaft gleichgesinnter Menschen stiften, welche sich zu Zwecken der Erziehung verbündeten". Sie hoffte auf eine "Neu-Organisation der Gesellschaft" und sah ihren Kreis als "eine Art Missionshaus" zu "einer neuen, vergeistigten Kultur" (371). Die "Welt bedarf der Apostel des Ideals" (433) schrieb sie 1890 Rolland. Solche Apostel wollte sie um sich scharen und sie ermutigen. Zeitweise fühlte sie sich zur "Prophetin" berufen und nannte sich "Hohepriesterin" (334). Doch als sich spät der Markterfolg ihrer Memoiren einstellte, sie von allzu vielen Besuchern in Rom behelligt und mit Briefen überschüttet wurde, empfand sie ihre Berühmtheit als lästig und - so schrieb sie Rolland - "einfach lächerlich" (320).
Wie konnte eine Frau mit diesem Leben, das sich als Rollenmuster allenfalls für wenige eignete, zum Vorbild werden? Radkau lässt dies im Dunkeln. Die Stärken seines Werkes liegen in der eindringlichen Analyse des Zwiegesprächs, das Malwida in ihren Briefen mit 'edlen Menschen' führte, die sie als gleichgestimmt empfand. Dahinter zurück tritt die Frage, wie dieses Dauergespräch auf der Suche nach dem idealen Leben in die damalige Gesellschaft und ihre Kultur einzuordnen ist. Dazu passt, dass der Autor das Schlusskapitel überschreibt mit "Zur Aktualität des Malwida-Idealismus, und Mein Weg zu Malwida". Radkau gehört, bei aller Kritik, die er immer wieder einfließen lässt, zu denen, die von Malwida - er nennt sie immer beim Vornamen - berührt worden sind.
Anmerkungen:
[1] Regina Timm: Malwida von Meysenbug. Wegbereiterin der Emanzipation im 19. Jahrhundert. Leben, Schaffen und Wirken, Norderstedt 2019.
[2] Martin Reuter: 1848, Malwida von Meysenbug und die europäische Demokratiegeschichte. Die Politik einer aristokratischen Demokratin im 19. Jahrhundert, Kassel 1998.
Dieter Langewiesche