Rezension über:

Paweł Figurski / Johanna Dale / Pieter Byttebier (eds.): Political Liturgies in the High Middle Ages. Beyond the Legacy of Ernst H. Kantorowicz (= Medieval and Early Modern Political Theology; Vol. 4), Turnhout: Brepols 2021, 305 S., 5 Farb-, 2 s/w-Abb., ISBN 978-2-503-59567-2, EUR 80,00
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Rezension von:
Stephan Waldhoff
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Leibniz-Edition, Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Stephan Waldhoff: Rezension von: Paweł Figurski / Johanna Dale / Pieter Byttebier (eds.): Political Liturgies in the High Middle Ages. Beyond the Legacy of Ernst H. Kantorowicz, Turnhout: Brepols 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 11 [15.11.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/11/37073.html


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Paweł Figurski / Johanna Dale / Pieter Byttebier (eds.): Political Liturgies in the High Middle Ages

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Der vorzustellende Sammelband ist die erste Publikation des internationalen Forschungsnetzwerkes Politics, Society, and Liturgy in the Middle Ages, dessen Akronym treffend PSALM lautet und das auf den ersten Seiten des Bandes vorgestellt wird (7f.). Er geht auf einen Workshop zurück, der 2019 in der Nähe von Poznań (Kantorowicz' Geburtsort) stattfand. Der Band ist dem Gedenken an Brygida Kürbis gewidmet, einer Posener Mediävistin, die im Erscheinungsjahr des Bandes 100 Jahre alt geworden wäre und thematisch durchaus einschlägig gearbeitet hat. Die Herausgeber haben das Buch - gut mittelalterlich, wie man spotten könnte - unter den Schirm eines mächtigen Schutzpatrons gestellt: Ernst Kantorowicz.

Diesem Spott kann der Band freilich gelassen entgegensehen, denn er trifft ihn nicht richtig. Wie bereits der Untertitel zeigt, geht es keineswegs um eine Beweihräucherung des Patrons, durch dessen Verehrung die eigene Position legitimiert wird (was bekanntlich nicht nur gut mittelalterlich, sondern bis heute eine beliebte Strategie im Wissenschaftsbetrieb ist). Kantorowicz' politisch nicht unproblematischer Kontext wird (nicht nur) in der Einleitung nüchtern angesprochen (16-19). Das Ziel ist aber, durchaus kritisch an seine Forderung anzuknüpfen, der Liturgie endlich ihren angemessenen Platz in der Mittelalterforschung einzuräumen. Dabei soll zugleich über seine Positionen hinausgedacht und -gearbeitet werden.

Das "Beyond" des Untertitels erschöpft sich aber nicht in dem geschilderten Sinn. Zu seinem vollen Verständnis muss man die Wörter "High Middle Ages" aus dem Obertitel hinzunehmen. Das Hinausgehen über Kantorowicz ist nämlich an erster Stelle nicht so sehr methodisch als vielmehr chronologisch gemeint, hinausgehen nämlich über jene Epochenschwelle, an der Kantorowicz die Ablösung des liturgy centered kingship durch ein law centered kingship sah, also zwischen Früh- und Hochmittelalter. Die Liturgie, so lautet das Konzept des Sammelbandes, habe im hohen Mittelalter tatsächlich keineswegs an Bedeutung für das Königtum verloren, wie Kantorowicz postuliert hatte. Zugleich wird die implizite Teleologie dieser Sicht kritisiert.

Die Themen, anhand derer die Fruchtbarkeit von Kantorowicz' Ansatz ausprobiert wird über jene Zeit hinaus, auf die er ihn angewandt hat, sind so vielfältig, die Forschungsansätze so unterschiedlich, dass es hier wenig Sinn hat, sie im Einzelnen vorzustellen. Bemerkenswert ist die breite geographische Streuung der Themen, die neben den erwartbaren Regionen auch die Randzonen und Außenposten Lateineuropas, Dänemark (E. Niblaeus), Polen (G. Pac), das lateinische Königreich Jerusalem (B. Dźwigała), in den Blick nehmen und mit Byzanz (G. Geréby) darüber hinausgehen (Letzteres hätte Kantorowicz sicherlich gefallen). Neben Schriftquellen, vor allem liturgischen, aber auch historiographischen (J. F. Romano; A. J. M. Irving), werden kirchliche Ausstattungsstücke (V. Sulovsky zum Barbarossaleuchter in Aachen) und liturgische Gewänder (J. Dale zu Saint Paul's in London) befragt.

Nach diesem oberflächlichen und etwas blassen Überblick, der nicht entfernt in der Lage ist, den Reichtum der einzelnen Beiträge an Erkenntnissen und Anregungen gerecht zu werden, sei ein Einzelaspekt angesprochen. Er betrifft einen Vorschlag des ersten, weniger exemplarisch als vielmehr programmatischen Beitrags. Sein Autor, P. Figurski, kritisiert den überkommenen Begriff 'sakrales Königtum' und möchte ihn durch 'sakramentales Königtum' ersetzen. Mit der Kritik stimmt der Rezensent überein, bei dem Vorschlag hat er Zweifel. Figurski versteht 'sakramental' nämlich weniger in dem die Sakramente dogmatisch und kirchenrechtlich fest definierenden und ihre Anzahl auf sieben beschränkenden Sinne, wie er sich im Hochmittelalter herausgebildet hat und in der katholischen Kirche bis heute gilt, sondern in dem älteren, begrifflich viel offeneren, nachdem etwa auch die Königssalbung als Sakrament verstanden werden konnte. Hier stellt sich die Frage, ob ein Begriff, der so voraussetzungsvoll ist, nicht zu ständigen Missverständnissen führen muss. Aber das ist nur eine pessimistische Vermutung. Man wird sehen, ob sich das 'sakramentale Königtum' in der Diskussion bewährt und ob der Begriff das einlösen kann, was sich sein Autor von ihm verspricht.

Die Tendenz der Beiträge geht nicht nur in die erwartbare Richtung, den Quellenwert liturgischer Überlieferung für das Verständnis von Herrschaft im (hohen) Mittelalter herauszuarbeiten (so 'klassisch' für die Sainte Chapelle C. Gaposchkin). Vielmehr wird auch die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, Überinterpretationen zu widerlegen, zu denen derartige Studien manchmal neigen, nach denen, überspitzt gesagt, ein mittelalterlicher Herrscher keinen Fuß über eine Kirchenschwelle setzen konnte, ohne nicht zugleich seine Herrschaft zu legitimieren und zu stabilisieren. Dies gelingt V. Sulovsky am schon erwähnten Barbarossaleuchter durch eine präzise Situierung im Kirchenraum der Aachener Pfalzkapelle, die verallgemeinernde herrschaftstheologische Interpretationen wenig solide aussehen lässt. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass die eine Tendenz grundsätzlich richtig, die andere ein Irrweg sei. Nicht nur aus dem Beitrag von Sulovsky kann man lernen, dass es immer auf den konkreten Fall ankommt.

Auf diese konkreten Fälle kommt es den Herausgebern ebenfalls an - mit der Wendung "binding together concrete examples" umschreiben sie ihre Aufgabe (14). Und jeder dieser Einzelfälle ist lehrreich. Aber zusammen mit der bereits angesprochenen thematischen und geographischen Breite macht dieser Umstand die Aufgabe, aus den elf Beiträgen einen Band zu komponieren, nicht eben einfach. Die Herausgeber haben sich entschieden die elf Beiträge ohne weitere sachliche Untergliederung in einer chronologischen Abfolge anzuordnen. Sie bieten aber zugleich drei alternative Wege durch den Band an.

Was den Sammelband zusammenhält ist letztendlich der gemeinsame Bezug der Beiträge auf Ernst Kantorowicz, der sich mal expliziter, mal impliziter zeigt, auch schon einmal etwas aufgesetzt wirkt und in einem Fall ganz ausfällt (bei G. Geréby, der dafür einen weiteren, in diesem Kontext interessanten Autor einführt, den Theologen Erik Peterson). Es ist aber gerade die kaum auf einen Nenner zu bringende Vielfalt und Buntheit der Aspekte, mit denen der Band seinem Versprechen Glaubwürdigkeit verleihen kann, hier werde ein fruchtbarer Forschungsansatz verfolgt. So ist zu wünschen, dass dieser Sammelband - Kantorowicz centered wie man ihn charakterisieren kann - dazu beiträgt, dass die Einschätzung des Kantorowicz-Biographen Robert E. Lerner möglichst schnell ihre Geltung verliert: "Die meisten Mediävisten aber beschäftigen sich immer noch 'fröhlich mit der Geschichte mittelalterlichen Denkens und Kultur, ohne je ein Messbuch geöffnet zu haben'." [1]


Anmerkung:

[1] Robert E. Lerner: Ernst Kantorowicz. Eine Biographie, Stuttgart 2020, S. 297.

Stephan Waldhoff