Rezension über:

Kira Thurman: Singing like Germans. Black Musicians in the Land of Bach, Beethoven, and Brahms, Ithaca / London: Cornell University Press 2021, 368 S., ISBN 978-1-5017-5984-0 , USD 32,95
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Rezension von:
Friedemann Pestel
Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg / University of California, Berkeley
Redaktionelle Betreuung:
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Friedemann Pestel: Rezension von: Kira Thurman: Singing like Germans. Black Musicians in the Land of Bach, Beethoven, and Brahms, Ithaca / London: Cornell University Press 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 12 [15.12.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/12/37118.html


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Kira Thurman: Singing like Germans

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2012 öffnete Kira Thurman in ihrem Aufsatz über die amerikanische Mezzosopranistin Grace Bumbry als 'Schwarze Venus' in Richard Wagners Oper Tannhäuser bei den Bayreuther Festspielen 1961 durch das Prisma der Kategorie race ganz neue Zugänge zur eingefahrenen Debatte über Wagner, den Nationalsozialismus und die westdeutsche Nachkriegszeit. [1] Nunmehr untersucht sie in ihrem neuen Buch die Präsenz afroamerikanischer Musikerinnen und Musiker in Deutschland und Österreich und damit die Beziehungen zwischen 'deutscher' Musik und race vom späten 19. bis ins späte 20. Jahrhundert.

Hat Jessica Gienow-Hecht deutschsprachige Orchestermusiker und Dirigenten in den USA nach 1850 als sendungsbewusste sound diplomats beschrieben, die mit ihrem hegemonial-nationalen Musikverständnis das klassische Musikleben in Nordamerika prägten [2], setzt sich Thurman mit dem Verhältnis von Universalismus und Hegemonie aus umgekehrter Perspektive auseinander. Afroamerikanische Musikerinnen und Musiker kamen um und nach 1900 nicht nur nach Deutschland und Österreich, um Bach, Beethoven oder Brahms, aber auch Wagner und Mahler, gleichsam an der Quelle zu studieren. Vielmehr boten sich ihnen dort Auftritts- und Karrieremöglichkeiten, die ihnen in den USA aus rassistischen Gründen verwehrt blieben. Ausschlaggebend dafür war, so Thurmans produktive Kernthese, der germanozentrische und bürgerliche Universalismus 'deutscher' Musik, die für die Zeitgenossen zugleich mehr war als 'nationale' Musik.

Die drei Teile des Buches decken mit dem Kaiserreich, der Zwischenkriegszeit und der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs fast ein Jahrhundert afroamerikanischer Interaktionen mit 'deutscher' Musik und dem deutschsprachigen Musikleben ab. Kamen Schwarze Musikerinnen und Musiker nach dem amerikanischen Bürgerkrieg zunächst an den ihnen zugänglichen heimischen Musikinstitutionen mit deutschsprachigen Musikermigranten als Lehrern in Kontakt, so setzten immer mehr von ihnen ihre Ausbildung als Teil wachsender transatlantischer Musikermobilität in Europa fort und begannen alsbald, dort auch aufzutreten. Aus deutscher Perspektive, für die Thurman vor allem die Presse auswertet, bestätigten afroamerikanische Interpretinnen und Interpreten wiederum das musikalische Überlegenheitsgefühl, wobei deutschsprachige Musikkritiker Spitzenleistungen in 'klassischer' Musik traditionell mit whiteness assoziierten. In Umkehrung der amerikanischen one drop rule als Kriterium für blackness suchten sie daher im Erscheinungsbild erfolgreicher afroamerikanischer Interpretinnen und Interpreten nach 'europäischen' Elementen.

Für die 1920er und 1930er-Jahre geht Thurman der "Black classical celebrity" (108) in Deutschland und Österreich nach. So etablierten sich afroamerikanische Sängerinnen und Sänger - allen voran der Tenor Roland Hayes und die Altistin Marian Anderson - im Liedgesang. Als vermeintlich 'deutscheste' aller Kunstformen bot dieser das höchste Universalisierungspotenzial. Angesichts der fortdauernden rassistischen Ausgrenzung im amerikanischen Musikleben trieben Schwarze Liedinterpreten ihre Karrieren mithilfe von Patronagenetzwerken, cultural brokers und musikalischen Märkten in Mitteleuropa voran, die Thurman als Teil von "Black internationalist cultural politics" (111) interpretiert. Die ausgedehnten Europaaufenthalte und Konzerttourneen von Hayes und Anderson stehen für eine weitgehend unbekannte Parallelgeschichte zu afroamerikanischen Jazzmusikern oder Revuesängerinnen in Europa, da sie bei deutschsprachigen Publika andere ästhetische Maßstäbe, Wertvorstellungen und Rollenverständnisse bedienten.

Vor dem Hintergrund eines racial uplift im amerikanischen Musikleben während des Zweiten Weltkriegs [3], den Thurman wie auch den Ersten Weltkrieg als Zeitraum ausblendet, kamen Schwarze Musikerinnen und Musiker in der amerikanischen Denazifizierungspolitik in Deutschland zum Einsatz, nunmehr auch in musikalischen Führungsrollen: 1945 dirigierte Rudolph Dunbar bei den Berliner Philharmonikern William Grant Stills Afro-American Symphony. Mit der amerikanischen Kulturdiplomatie des beginnenden Kalten Krieges profitierten auch afroamerikanische Musikerinnen und Musiker von wachsenden finanziellen Ressourcen in den transatlantischen Musikbeziehungen.

Neu war in den 1950er-Jahren der Schritt auf deutschsprachige Opernbühnen, für die Thurman die Intersektionalität von race und gender plastisch herausstellt: Während es für Opernintendanzen und Musikkritik undenkbar blieb, dass Schwarze Sänger die Liebhaber europäischer Sängerinnen verkörperten, boten sich für Afroamerikanerinnen vermehrt Auftrittsmöglichkeiten in Rollen, die wie Aida als 'afrikanisch' imaginiert wurden oder wie Cio-Cio-San (in Madama Butterfly) und Carmen als hinreichend 'exotisch' für Schwarze Besetzungen galten. Eine 'Schwarze' Pamina, die in Mozarts Zauberflöte vom 'Mohren' Monostatos begehrt wird, oder eine 'Schwarze' Blonde in der Entführung aus dem Serail blieben Afroamerikanerinnen dagegen aus Gründen des Typecastings noch lange verwehrt, oder sie erhielten abwertende Kritiken. Damit stellt Thurman Bumbrys Bayreuther Venus in einen aufschlussreichen Kontext. Teilweise größere Spielräume bot Schwarzen Sängerinnen und Sängern der ideologische Antirassismus der DDR, der im letzten Kapitel zur Sprache kommt.

Die Stärke von Thurmans Buch ist der Fokus auf die Logiken von Exklusion und Teilhabe Schwarzer Musikerinnen und Musiker zwischen germanozentrischen und universalistischen Aufladungen von German Music. Deren Handlungsspielräume und Rezeption begreift Thurman als integralen Bestandteil des deutschsprachigen Musiklebens, so begrenzt die Betätigungsmöglichkeiten im Einzelnen und die Präsenz innerhalb Schwarzer Communities in Europa auch waren. Auch der Bogen vom Kaiserreich in die beiden deutschen Nachkriegsstaaten erweist sich wie in anderen jüngeren Beiträgen für die Frage nach der Inklusions- und Exklusionskraft 'deutscher' Musik als gewinnbringend. [4] Dabei verzichtet Thurman darauf, ihr Plädoyer für eine "German history over the longue durée" (12) am Schluss noch einmal breiter zu verankern.

Für die Repositionierung des Universalismus 'deutscher' Musik kommt Thurman im Gegenzug nicht ohne Idealisierungen aus. In der Einschätzung der 'Erfolge' afroamerikanischer Musikerinnen und Musiker neigt sie dazu, Positivurteile in Presseberichten und Egodokumenten als Beglaubigungen zu übernehmen oder den Prestigewert deutschsprachiger Musikinstitutionen und europäischer Musikgrößen zum Maßstab zu erheben. Wiederholt präsentiert das Buch das Debüt der Pianistin Hazel Harrison bei den Berliner Philharmonikern 1904 als einen Meilenstein. Allerdings bediente das junge, unsubventionierte Orchester eine Vielzahl von Konzertformaten, Repertoires und Publika, die keineswegs gleichermaßen prestigebehaftet waren. Beim letztlich einmaligen Gastspiel Harrisons handelte es sich um ein Solistenkonzert, für welches das Orchester hinzuengagiert wurde, und nicht um ein Abonnementkonzert, zu dem die Solistin eingeladen worden wäre.

Auch Marian Andersons Auftritte in Wien sowie im Umfeld, allerdings nicht als Teil der Salzburger Festspiele (so aber 145 und 174), Mitte der 1930er-Jahre bemisst Thurman an der Anerkennung der Dirigenten Bruno Walter und Arturo Toscanini. Dabei prägten diese Konzerte die jeweiligen Partner und Institutionen weniger nachhaltig. Bezeichnend für zeitgenössische Distinktionslogiken ist, dass Anderson 1936 im Wiener Musikverein Brahms' Alt-Rhapsodie Op. 53 eben nicht, wie von Thurman behauptet (149; 176-178), mit den Wiener Philharmonikern sang, sondern mit den zwar ebenfalls renommierten, aber nicht in derselben Liga spielenden Wiener Symphonikern. [5] Gegenüber solchen episodischen Kooperationen wäre ein genauerer Blick auf die lange Amtszeit Dean Dixons als Chefdirigent des Radio-Sinfonie-Orchesters Frankfurt zwischen 1961 und 1974 aufschlussreich.

Weiterhin bleibt bei Thurmans emphatischer Lesart von Mitteleuropa als afroamerikanischem Kompensationsraum die politische Situation in Deutschland und vor allem Österreich etwas blass: Dass sich gerade die austrofaschistische Kulturpolitik zwischen 1933 und 1938 als Alternative zum NS-Musikleben inszenierte, davon profitierten Walter und Toscanini wie auch Anderson. Sie hatten bei aller Kritik am Nationalsozialismus keine Probleme damit, umso häufiger in einer anderen Diktatur aufzutreten. [6]

Insgesamt leistet Thurman einen grundlegenden Beitrag für eine postkoloniale, rassismuskritische Perspektive auf das deutschsprachige Musikleben, indem sie 'klassische' Musik als einen begrenzten Partizipations- und Emanzipationsraum für nichtweiße Musikerinnen und Musiker begreift. Zukünftige Studien zu einer vielfältigeren Geschichte 'klassischer' Musik - zu denken wäre hier an die Präsenz asiatischer Musikerinnen und Musiker im deutschsprachigen Musikleben wie an Schwarze Musikerinnen und Musikern in anderen Teilen Europas - finden darin wichtige Anknüpfungspunkte. [7]


Anmerkungen:

[1] Kira Thurman: Black Venus, White Bayreuth: Race, Sexuality, and the Depoliticization of Wagner in Postwar West Germany, in: German Studies Review 35 (2012), 607-626.

[2] Jessica C. E. Gienow-Hecht: Sound Diplomacy. Music and Emotions in Transatlantic Relations, 1850-1920, London / Chicago 2009.

[3] Annegret Fauser: Sounds of War. Music in the United States during World War II, New York 2013.

[4] Sabine Mecking / Yvonne Wasserloos (Hgg.): Inklusion & Exklusion. 'Deutsche' Musik in Europa und Nordamerika 1848-1945, Göttingen 2015; Martin Rempe: Kunst, Spiel, Arbeit. Musikerleben in Deutschland, 1850 bis 1960, Göttingen 2020.

[5] Die Todesdrohungen, die Dirigent Bruno Walter laut seinen Memoiren bei einem Wiener-Philharmoniker-Konzert 1936 erhielt, dürften daher in keinem Zusammenhang mit dem Engagement Andersons stehen.

[6] Anita Mayer-Hirzberger: "... ein Volk von alters her musikbegabt". Der Begriff "Musikland Österreich" im Ständestaat, Frankfurt/M. 2008; Robert Kriechbaumer: Zwischen Österreich und Großdeutschland. Eine politische Geschichte der Salzburger Festspiele 1933-1944, Wien / Köln / Weimar 2013.

[7] Vgl. für die USA Mari Yoshihara: Musicians from a Different Shore. Asians and Asian Americans in Classical Music, Philadelphia 2007; für Jazz in Frankreich Rachel Anne Gillett: At Home in Our Sounds. Music, Race, and Cultural Politics in Interwar Paris, New York 2021; zu Anderson in Japan Katie A. Callam u.a.: Marian Anderson's 1953 Concert Tour of Japan: A Transnational History, in: American Music 37 (2019), 266-329.

Friedemann Pestel