Marian Luschnat-Ziegler: Die ukrainische Revolution und die Deutschen 1917-1918 (= Studien zur Ostmitteleuropaforschung; 52), Marburg: Herder-Institut 2021, VIII + 283 S., ISBN 978-3-87969-459-4, EUR 55,00
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Ksenya Kiebuzinski / Alexander Motyl (eds.): The Great West Ukrainian Prison Massacre of 1941. A Sourcebook, Amsterdam: Amsterdam University Press 2017
Tanja Penter / Stefan Schneider (Hgg.): Olgas Tagebuch (1941-1944). Unerwartete Zeugnisse einer jungen Ukrainerin inmitten des Vernichtungskriegs, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2022
Kai Struve: Deutsche Herrschaft, ukrainischer Nationalismus, antijüdische Gewalt. Der Sommer 1941 in der Westukraine, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Grzegorz Rossoliński-Liebe: Stepan Bandera. The Life and Afterlife of a Ukrainian Nationalist. Fascism, Genocide, and Cult, Hannover: Ibidem 2014
Marc Junge: Stalinistische Modernisierung. Die Strafverfolgung von Akteuren des Staatsterrors in der Ukraine 1939-1941, Bielefeld: transcript 2020
Marian Luschnat-Zieglers Arbeit zur ukrainischen Revolution 1917-1918 reiht sich in die wichtigen Publikationen zur deutsch-ukrainischen Geschichte von Frank Golczewski und Frank Grelka [1] ein, vollzieht aber einen Perspektivwechsel, zumal ihr nicht deutsche Archivbestände, sondern ukrainische Memoiren und auch einige ukrainische Archivalien zugrunde liegen. Diese zumeist von prominenten ukrainischen Politikern stammenden Quellen werden primär aus politik- und militärhistorischen Blickwinkeln beleuchtet. Der Verfasser konzentriert sich auf die Ukrainische Volksrepublik (mit regionalem Fokus auf Kyjiv und dem Umland) und bezieht die westukrainischen Staatsbildungsversuche sinnvollerweise nicht ein.
Luschnat-Ziegler konzentriert sich auf drei ukrainische Akteursgruppen, denen er die größte Relevanz im Rahmen der deutschen Besatzung beimisst: die politischen Parteien, die Bauern und das Militär. [2] Dementsprechend sind auch die drei Hauptkapitel strukturiert, in denen er die jeweilige Akteursgruppe und ihre Beziehungen zu deutschen Akteuren historisiert. Das erste Kapitel zu den politischen Parteien fällt etwas länger aus, zumal einführend die Vorgeschichte und die vielfältige ukrainische Parteienlandschaft sinnvoll skizziert sind.
Anhand seiner Betrachtung der vielfältigen ukrainischen Parteienlandschaft diskutiert der Verfasser Golczewskis These einer mutual exploitation deutscher und ukrainischer Akteure, die er bestätigt und vertieft (100). Trotz sektoraler Auseinandersetzungen mit der deutschen Besatzungsmacht nahmen die Ukrainer diese nicht als Feind wahr, sondern vielmehr als Mittel zum Zweck, notwendiges Übel oder Übergangslösung. Diese Haltung sei auch bei konfliktreicheren Fragen eine Leitlinie der ukrainischen Führung geblieben. Als Negativfolie, die diese Akzeptanz überhaupt erst ermöglichte, sahen ukrainische Akteure die russische Dominanz der Vorkriegszeit und den Vormarsch sowjetischer Kräfte. Trotz zahlreicher Gegensätze zwischen österreichischer und russländischer ukrainischer Nationalbewegung blieb die gewünschte Anlehnung an die Mittelmächte ein gemeinsames Merkmal, für die ukrainische Akteure sich freiwillig in die Rolle eines "Juniorpartner[s]" (240) begaben.
Die Lage der ukrainischen Bauern - als klare Mehrheit der Bevölkerung - verortet der Verfasser zwischen sozialen und nationalen Herausforderungen und laufenden Vergesellschaftungsprozessen während der Kriegszeit. Neben dem basisdemokratisch organisierten Bauernbund (Seljans'ka Spilka), der den ukrainischen Sozialrevolutionären nahestand, thematisiert er die Bildung paramilitärischer Verbände (darunter vor allem die "Freien Kosaken"). Die Deutschen hätten sich vornehmlich an der Bodenfrage und nicht an nationalen Aspekten orientiert. Unter Hinweis auf Gruppen mit partikularen lokalen Interessen glaubt der Verfasser in möglicher nationaler Indifferenz [3] eine spannende Problematik zu erkennen (102, 115, 121-122), bei der es sich um ein fruchtbares Feld für vertiefende Forschungen handele.
Hinsichtlich des Militärs stand zunächst der Aufbau einer ukrainischen Armee im Vordergrund. Angesichts gemeinsamer deutsch-ukrainischer Ziele wie der Zurückdrängung der bol'ševiki liegt erneut der Gedanke der wechselseitigen Bereicherung (respektive Ausbeutung) nahe, bisweilen soll die militärische Kooperation sogar darüber hinausgegangen sein (240). In anderen konfliktbeladenen Bereichen wie der Ressourcenkonkurrenz und der Militärpolitik waren die ukrainischen Militärs unter Kriegsminister Oleksandr Žukovs'kyj allerdings rasch desillusioniert. Die Erkenntnisse zu Militär und Gewalt werden sinnvoll in breitere Fragen eingebettet, etwa hinsichtlich der Rekrutierungskonkurrenz mit den bol'ševiki (171) oder einer fundierten Auseinandersetzung mit Felix Schnells [4] Narrativ des Gewaltraums (vergleiche exemplarisch 247).
Die zahlreichen einschlägigen Neuerscheinungen aus ukrainischer Feder - verbunden mit den hundertjährigen Jubiläen der Revolutionsjahre 1917-1921 - konnten kaum einbezogen werden. [5] Überdies hat sich Luschnat-Ziegler nicht mit neueren Zugängen zu autobiografischen Quellen auseinandergesetzt. [6] Gegenüber diesen Kritikpunkten überwiegen allerdings die Vorzüge des Werkes. Wichtige Themen und Perspektivierungen der ukrainischen Geschichte werden hier erstmals ausführlicher in deutscher Sprache behandelt. Auch abseits der primären Fragestellung liefert das Werk eine sorgfältige Aufbereitung der komplexen ukrainischen Parteienlandschaft und der anderen politischen Akteure. Dank dem Personenregister stellt der Band auch ein wichtiges Nachschlagewerk dar. Durch die große Klarheit in der Sprache, die gut nachvollziehbare Struktur und die gelungenen Einführungen in jedes der Teilthemen eignet sich das Werk auch für den universitären Unterrichtsgebrauch und breitere Leserkreise.
Anmerkungen:
[1] Frank Golczewski: Deutsche und Ukrainer. 1914-1939, Paderborn 2010; Frank Grelka: Die ukrainische Nationalbewegung unter deutscher Besatzungsherrschaft 1918 und 1941 / 42, Wiesbaden 2005.
[2] Der in der deutsch-ukrainischen Geschichtsschreibung recht bekannte Bund zur Befreiung der Ukraine (Sojuz Vyzvolennja Ukrajiny) habe für die Volksrepublik nur eine marginale Rolle gespielt, sodass er vor allem im Bereich der Vorgeschichte kritisch eingeordnet wird (22, 28-31).
[3] Tara Zahra: Imagined Noncommunities. National Indifference as a Category of Analysis, in: Slavic Review 69 (2010), 1, 93-119.
[4] Felix Schnell: Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine. 1905-1933, Hamburg 2012.
[5] Vergleiche exemplarisch Ivan Basenko: The "German Intrigue" as an Element of the Anti-Ukrainian Campaign. A Case Study of Kyiv's Russian Language Press, 1914-18, in: East/West. Journal of Ukrainian Studies 5 (2018), 2, 149-173; Vasyl' M. Šejko: Intelihencija i vlada v časy Ukrajins'koji revoljuciji 1917-1921 rokiv [Intelligenzija und Herrschaft zur Zeit der Ukrainischen Revolution der Jahre 1917-1921], Charkiv 2020; Jevhen Pinak: Vijs'ko ukrajins'koji revoljuciji 1917-1921 rokiv [Die Armee der ukrainischen Revolution 1917-1921], Charkiv 2017.
[6] Martin Aust / Frithjof Benjamin Schenk (Hgg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Habsburger, Romanovs und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Köln u. a. 2015; vergleiche auch jüngst, Korine Amacher / Frithjof Bejamin Schenk u. a. (Hgg.): Personal Trajectories in Russia's Great War and Revolution, 1914-22. Biographical Itineraries, Individual Experiences, Autobiographical Reflections, Bloomington 2021.
Martin Rohde