Jan Kellershohn: Die Politik der Anpassung . Arbeitswelt und Berufsbildung im Ruhrgebiet 19501980 (= Industrielle Arbeitswelt; Bd. 101), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2021, 475 S., ISBN 978-3-412-52249-0, EUR 65,00
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Jan Kellershohn nimmt sich in seiner Dissertation der "Arbeitswelt und Berufsbildung" an, die in den letzten Jahren vermehrt Aufmerksamkeit gefunden hat. Wer aber detaillierte Informationen zu Lehrplänen, zum Sozialprofil der Teilnehmenden oder zur Frage erwartet, ob sich Berufsbildung auszahlte, wird in diesem Buch kaum fündig werden. Vorschnell beiseitelegen sollte man es dennoch nicht. Denn der Autor beansprucht, mit seiner vielschichtigen und thesenstarken Arbeit über den eigentlichen Gegenstandsbereich hinaus einen methodologischen Beitrag zur Historisierung von Wissen und eine Neuinterpretation der bundesrepublikanischen Geschichte zu liefern, nämlich "eine pessimistische Geschichte" (389).
Berufliche Bildung dient als Sonde, um hinter die Kulissen der Bildungspraxis zu blicken. Dort wirkte die "Wissenspolitik" als strukturierende Kraft. Auf diesem Politikfeld verhandelten zahlreiche Akteurinnen und Akteure über "die Bedeutung, die Wissen und Qualifikation in der Arbeitsgesellschaft einnehmen sollten" (17), wobei der "Wille zur Umstellung" (15) einen zentralen Bezugspunkt darstellte. Dadurch rückten die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Fokus. Neben dieser inhaltlichen Dimension stehen die "Praktiken" im Mittelpunkt des Interesses, das heißt die angewandten Methoden, die "das Verhältnis von Arbeit und Begabung [...] vereindeutigen" sollten (18). Neben Studienreisen setzten die Akteurinnen und Akteure etwa auf Tabellen, Gruppeninterviews oder Intelligenztests, lösten damit letztlich aber nur immer neue "Vereindeutigungsspirale[n]" (112) aus. Die dritte Analyseperspektive erschließt die Handlungsspielräume der Akteurinnen und Akteure. Durch diesen Zugriff verspricht Kellershohn, eine "konkrete [...] Geschichte der Abstraktion" (29) zu schreiben. Hierfür stellt er sich, vor allem unter Rückgriff auf französische Stichwortgeberinnen und -geber, einen ganz eigenen wissensgeschichtlichen Werkzeugkasten zusammen.
Um dieses ambitionierte Programm umzusetzen, schränkt der Autor seinen Untersuchungszeitraum auf die Jahre 1950 bis 1980 ein. Die Wissenspolitik ist für ihn kein allgemeines Merkmal des Kapitalismus, er bindet sie vielmehr an die Vorstellung des "Strukturwandels" (13) zurück. Dessen Ursprung verortet er im Südfrankreich des Jahres 1953, von wo aus 5000 entlassene Bergarbeiter in andere Reviere umgesiedelt wurden. In den Kapiteln 2 und 3 zeichnet er die Genese der Wissenspolitik in Frankreich, auf europäischer Ebene und in der Bundesrepublik nach, um sich in den Kapiteln 4 bis 6 ganz auf das Ruhrgebiet zu konzentrieren. Das Ende des Untersuchungszeitraums begründet er damit, dass 1979 "[d]er Strukturwandel als epistemischer Apparat [...] seine generische Funktion entfaltet"; seither sei die Existenz einer Grenze zwischen anpassungsfähigen und -unfähigen Individuen als "wahr" anerkannt (388). Zwingend ist diese Periodisierung freilich nicht. Immer wieder verweist der Autor selbst auf längere Kontinuitätslinien, um im Fazit den Strukturwandelbegriff gar zu einem "Modus der Aushandlung des Verhältnisses von Arbeit, Wissen und Differenz" (394) zu verallgemeinern.
Die Frage der Periodisierung ist insofern relevant, als der Erzählbogen darauf ruht. Die Geschichte der Wissenspolitik vollzog sich demnach in einem Dreischritt: Zunächst verfolgte die Berufsbildung "moralisch-holistische Eingliederungsvorstellungen" (66), galt doch die "Fluktuation" (81) von Arbeitskräften als Gefährdung der bestehenden Ordnung. Als in der frühen Nachkriegszeit die Zukunft der Arbeit jedoch unklar und dadurch krisenhaft geworden sei, habe sich eine "Wissenspolitik der Anpassung" (94) herausgebildet. Prägend für die Auseinandersetzung sei der Mobilitätsbegriff gewesen, den Serge Moscovici in den Diskurs eingebracht hatte. Von dort aus fand er seinen Weg in die Gremien der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, um dann in die Bundesrepublik zu diffundieren. Hier kristallisierte sich schnell das Ruhrgebiet als idealtypisches Experimentierfeld der Wissenspolitik heraus, auch weil die Schwerindustrie (noch) über ausreichend Kapital verfügte, um eigene Bildungsexperimente durchzuführen. Bald schon konzentrierte sich die Wissenspolitik auf zwei Problemgruppen, an denen sich die Grenzen der Anpassungsfähigkeit verhandeln ließen. Bei älteren Arbeitnehmern galt es, die Umschulfähigkeit zu vermessen. Zwei neu geschaffene Modelleinrichtungen, die Gesellschaft zur Verbesserung der Beschäftigtenstruktur und das Berufsförderungszentrum Essen, scheiterten laut Kellershohn daran, den "Beweis" (200) für die Bildbarkeit älterer Arbeitnehmer zu erbringen. Infolgedessen schlug die "Wissenspolitik der Anpassung" in eine des Ausschlusses um. Die Aushandlung, wo die Grenze der Bildbarkeit verlief, vollzog sich überdies an der Sozialfigur des "Lernbehinderten". Letztlich habe die Wissenspolitik nicht nur den anpassungsfähigen Selbstoptimierer, sondern notwendigerweise auch dessen "bildungsunfähigen Doppelgänger" (327) hervorgebracht.
Kellershohn arbeitet immer wieder überraschende Befunde heraus. So verharrte zu Beginn die Unternehmensseite in Opposition dazu, die Mobilität und Anpassungsfähigkeit der Beschäftigten zu steigern. Dagegen habe sich der Mobilitätsbegriff als anschlussfähig an ältere rassenanthropologische Ideologeme ("Ruhrvolk") erwiesen. Die "Politik der Anpassung" sei überdies der Logik des Wohlfahrtsstaats entsprungen, während neoliberale Konzepte wie Humankapital bedeutungslos blieben. Diese Erkenntnis nutzt der Autor für sein Plädoyer, eine "pessimistische Geschichte" zu schreiben. Denn die Wissenspolitik habe zu neuen Ausschlüssen geführt, und zwar nicht nur der "Bildungsunfähigen", sondern auch der Frauen.
So richtig diese Beobachtungen sind, sie überzeugen mich nicht ganz. Die Feststellung, dass es zu Ausschlüssen kam (die Kategorie "race" spielt überraschenderweise nur eine marginale Rolle), zielt für sich genommen ins Leere. Denn welche Konsequenzen zog ein Ausschluss nach sich? Wie viele betraf der Ausschluss? Und welche Handlungsalternativen existierten überhaupt? Da Kellershohn die Sozialgeschichte weitgehend ausblendet, fällt etwa die Massenarbeitslosigkeit als restringierender Faktor kaum ins Gewicht. Es wäre lohnend, den Vergleich mit Frankreich über das Jahr 1969 hinaus fortzuführen. Ohnehin geht die Begründung der Entscheidung gegen einen symmetrischen transnationalen Vergleich fehl. Selbst wenn die Wissenspolitik in Frankreich ab 1970 nicht mehr mit Bezug auf Montanregionen verhandelt wurde, hätte er diesem Wissen folgen können, da die Wissensgeschichte, anders als etwa die Sozialgeschichte, nicht an einen spezifischen Raum gebunden ist.
Auch methodologische Einwände sprechen gegen sein lineares Narrativ, da Wissen in der Wissensgeschichte als zirkulierend konzipiert wird - es wird also immer wieder aufs Neue angeeignet und dadurch verfremdet. Tatsächlich deuten die überlappenden Zeiträume der Kapitel 4 bis 6 an, dass der Autor hier verschiedene Felder betrachtet. Ein räumliches Nebeneinander lässt sich aber nicht ohne Weiteres in eine zeitliche Abfolge übersetzen. So liefen Bildungsprogramme, die der Logik der Anpassung folgten, in der von Kellershohn kaum beachteten betrieblichen Praxis auch noch weiter, als sich der wissenspolitische Diskurs anderswo schon längst der Logik des Ausschlusses zugewandt hatte. Auch müssen Anpassung und Ausschluss keineswegs als analytische Antagonisten fungieren. Dies kommt im letzten Satz zum Ausdruck, mit dem er seine "pessimistische Geschichte" gleichsam revidiert: "An die Stelle der Eindeutigkeit tritt die Geschichte als Vexierbild" (413).
Selbst wenn man Jan Kellershohn nicht in allem folgen muss, stellt seine Arbeit eine beachtliche intellektuelle Leistung dar. Eine künftige Anpassung seiner Thesen durch Kolleginnen und Kollegen ist daher nicht ausgeschlossen. Das zumindest ist eindeutig.
Stefan Wannenwetsch