Rezension über:

Elke Seefried (Hg.): Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert. Parteien, Bewegungen, Umbrüche, Frankfurt/M.: Campus 2022, 389 S., ISBN 978-3-593-50958-7, EUR 39,95
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Rezension von:
Victor Jaeschke
Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Paul Blickle
Empfohlene Zitierweise:
Victor Jaeschke: Rezension von: Elke Seefried (Hg.): Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert. Parteien, Bewegungen, Umbrüche, Frankfurt/M.: Campus 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 2 [15.02.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/02/37529.html


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Elke Seefried (Hg.): Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert

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Bei dem hier zu besprechenden Sammelband handelt es sich um den gelungenen Versuch, die Erforschung vergangener Zukunftsvorstellungen mit eher konventionellen Perspektiven der Politikgeschichte zusammenzubringen. Das ist in zweierlei Hinsicht begrüßenswert: Erstens beschert dieser Ansatz der Politikgeschichte einen frischen Blick auf alte Themen wie die Geschichte der Parteien und der politischen Bewegungen, die hier im Mittelpunkt steht. Zweitens veranschaulicht der Sammelband die mitunter abstrakten Konzepte der Zeit-Geschichte, also jener geschichtswissenschaftlichen Subdisziplin, die sich mit der Analyse von Zeitwahrnehmungen befasst, an gut greifbaren Fallbeispielen.

Der chronologisch gegliederte Band verfolgt drei übergeordnete Ziele, wie Elke Seefried in der programmatisch dichten Einleitung darlegt. Er soll zur Parteien- und Bewegungsgeschichte sowie zur Demokratiegeschichte beitragen und zudem reflektieren, wie sich Zukunftsvorstellungen in Zeiten des Umbruchs wandelten. Die Aufsätze sind dabei in zwei große Blöcke zusammengefasst. Der erste befasst sich mit den Jahren 1900 bis 1945. Der zweite endet mit dem Jahr 2000. Ebenso aufschlussreich ist es allerdings, die Beiträge zu den jeweiligen politischen Lagern, vom Kommunismus, über die Sozialdemokratie, den Liberalismus und den Konservatismus bis zum Rechtsextremismus en bloc zu betrachten, da so Wandlungsprozesse innerhalb der Parteienfamilien deutlicher hervortreten.

Andreas Wirsching zeigt, wie Lenin aus der Theorie des Marxismus eine praxisorientierte "Tatphilosophie" (54) formte, die den Kommunismus näher an die Gegenwart heranholen sollte. Hermann Wentker beschreibt dann einen schleichenden Desillusionierungsprozess im real existierenden Sozialismus der DDR, der letztlich zu einem "Verblassen der Zukunft" (365) in der Ära Honecker geführt habe, da die Gegenwart auch nach jahrzehntelanger SED-Herrschaft stark von der versprochenen Zukunft abwich.

Ein vergleichbarer Prozess war mit Blick auf die Sozialdemokratie zu beobachten. Anna Strommenger zeigt, wie die deutsche Sozialdemokratie der Zwischenkriegszeit verschiedene Zeitdimensionen bediente, um sich als fortschrittliche Kraft zu positionieren. Nach der Revolution von 1918 habe sie an der Zukunftsvision des Sozialismus festgehalten. Gleichzeitig bezog sie sich in den 1920er und 1930er Jahren auf die Revolution von 1918 als ein für die Zukunft zu bewahrendes Erbe. Schließlich setzte sie darauf, durch sozialpolitische Maßnahmen "Inseln der Zukunft in der Gegenwart" (84) zu schaffen. Elke Seefried beschreibt in ihrem Aufsatz, wie die SPD nach 1945 zunächst an den Zukunftsoptimismus der Zwischenkriegszeit anknüpfte. In den 1970er und frühen 1980er Jahren geriet ihr Selbstverständnis als eine fortschrittsfreundliche, zukunftszugewandte Partei im Angesicht von ökonomischen und ökologischen Herausforderungen in eine Krise, die im Grunde bis in die 2010er Jahre anhielt. Politische Konkurrenz machten der SPD zudem die "68er", denen sich Detlef Siegfried widmet, die Friedens- und Umweltbewegung, die Eva Oberloskamp thematisiert, sowie die Partei "Die Grünen", mit der sich Silke Mende befasst. Auch in diesem Milieu dominierte in den 1970er und 1980er Jahren ein "apokalyptisch geprägte[r] Angstdiskurs", so Mende (349).

Jürgen Fröhlich geht der Frage nach, inwiefern sich die Zukunftsvorstellungen der Liberalen zwischen 1900 und 1933 mit der Formel "'Fortschrittsoptimismus' einerseits und 'Utopieskepsis' andererseits" (93) beschreiben lassen. Er kann seine Hypothese weitgehend bestätigen. Insgesamt seien die Zukunftsvorstellungen der Liberalen "wenig spektakulär [gewesen] und liefen meist auf eine positive Fortschreibung der Gegenwart hinaus" (112). Ewald Grothe sekundiert, dass die Liberalen der Nachkriegszeit ebenfalls selten mit der Formulierung großer Visionen auf sich aufmerksam machten. Den größten Vorstoß wagten sie mit den linksliberalen "Freiburger Thesen" von 1971, die Grothe als "das wohl avancierteste Zukunftsmodell des Liberalismus nach 1945" bezeichnet (247). Von den kapitalismuskritischen Obertönen der "Thesen" blieb in den Parteiprogrammen der FDP seit Mitte der 1980er Jahre nicht mehr viel übrig. "Freiburg" sei zu einem Mythos geworden, der zwar bis heute präsent, aber nicht mehr zeitgemäß sei.

Stefan Gerber widmet sich dem politischen Katholizismus zwischen 1918 und 1933, der im Zentrum seine parteipolitische Organisationsform fand. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dessen Zukunftsvorstellungen "bestenfalls in allgemeinen, weit interpretationsfähigen Formeln" daherkamen (119) und macht dafür zum einen die allgemeine Skepsis vieler Katholikinnen und Katholiken vor weltlichen Heilsversprechen verantwortlich, zum anderen den integrativ-volksparteilichen Charakter des Zentrums. Thomas Rohrkämper fällt ein deutlich kritischeres Urteil über die weiter rechts stehenden konservativen Kräfte in der Zeit zwischen 1890 und 1933. Der Konservatismus sei "nie eine rein bewahrende politische Bewegung" gewesen (137). Vielmehr sei es ihm darum gegangen, "die ökonomisch-technische Modernisierung mit anti-pluralistischen und hierarchischen Gemeinschaftsvorstellungen sowie einem militaristischen Machtstaatsdenken zu verbinden" (138). Martina Steber analysiert in ihrem Beitrag schließlich, wie CDU und CSU in den 1970er und 1980er Jahren mit der Zukunft rangen. Ihr Markenkern war der Konservatismus, der schon dem Namen nach auf das Bewahren ausgerichtet war. Gleichzeitig versuchte die CDU, sich von ihrem Ruf als Partei der Ewiggestrigen zu befreien. In diesem Zuge machte sie die Ökologie als ein zukunftsträchtiges Thema aus, inkorporierte aber zunehmend auch neoliberale, auf Deregulierung und Individualisierung ausgerichtete Zukunftsvorstellungen.

Fernando Esposito widmet sich in einem kompakten, aber kenntnisreichen Aufsatz zum italienischen Faschismus dem rechten Rand und liefert damit den einzigen Beitrag zu einem nicht-deutschen Fallbeispiel. Er zeigt, dass der Faschismus von einer starken Ambivalenz gekennzeichnet war. Zum einen strebten die Faschisten eine umfassende Erneuerung Italiens an und somit den Aufbruch in ein neues Zeitalter, für das 1926 sogar eine eigene Zeitrechnung eingeführt wurde. Gleichzeitig knüpften sie an die Idee des "ewigen Roms" an und gaben dem Projekt damit eine historische Verankerung. Wie Frank Bajohr zeigt, waren derartige Ewigkeitsfantasien auch im deutschen Nationalsozialismus präsent. Ewig war demnach vor allem die vermeintliche Überlegenheit der arischen Rasse, aber auch die Feindschaft gegenüber den Juden. Gideon Botsch wiederum zeichnet ein ganz anderes Bild rechtsradikaler Zukunftsvorstellungen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In der Bundesrepublik seien die Rechtsradikalen politisch marginalisiert gewesen, was dazu geführt habe, dass sich ihre Zukunftsvorstellungen größtenteils in der Erwartung des Systemzusammenbruchs erschöpften.

"Politische Zukünfte im 20. Jahrhundert" sticht durch die hohe Kohärenz zwischen den einzelnen Beiträgen positiv hervor. Das ist ein Verdienst der klaren Konzeption des Bandes mit seinem doppelten Fokus auf Zukunftsvorstellungen einerseits und die deutsche Parteien- und Bewegungsgeschichte andererseits. Die Kehrseite ist freilich, dass der Zuschnitt des Sammelbandes recht eng ist. Elke Seefried nimmt den größten Kritikpunkt in der Einleitung selbst vorweg, und zwar dass die international vergleichende Perspektive weitgehend ausgespart wurde. Daraus kann an dieser Stelle allerdings kein Vorwurf werden. Vielmehr sollte der Band als Einladung zu Vergleichen mit anderen Ländern sowie zur Erforschung transnationaler Entwicklungslinien im Zukunftsdenken verstanden werden. Was den Sammelband noch weiter abgerundet hätte, wäre indes ein abschließender Beitrag gewesen, der reflektiert, wie sich die vergangenen Zukünfte zu gegenwärtigen Debatten verhalten. Genügend Anknüpfungspunkte böte der Band dafür, etwa den Aufstieg der Ökologie zum wichtigsten Zukunftsthema der Gegenwart oder die Vorstellungen von einer ethnisch homogenen Nation, wie sie in verschiedenen Ländern Europas wieder auf dem Vormarsch sind.

Victor Jaeschke