Mikhal Dekel: Die Kinder aus Teheran. Eine lange Flucht vor dem Holocaust, Darmstadt: wbg Theiss 2021, 464 S., ISBN 978-3-8062-4278-2, EUR 28,00
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Die Geschichte der sogenannten Kinder von Teheran, die der deutschsprachigen Öffentlichkeit bereits aus den Werken von Jutta Vogel oder Henryk Grynberg sowie der Fernsehdokumentation "Die Odyssee der Kinder" bekannt sind [1], wird dem Lesepublikum nun erneut in der deutschen Übersetzung des Buches von Mikhal Dekel präsentiert. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Gruppe von fast 900 jüdischen Kindern, die zwischen September 1939 und Februar 1943 mehr als 20.000 Kilometer von Polen über die Sowjetunion und den Iran in das britische Mandatsgebiet Palästina überwinden mussten. Benannt wurden sie nach der Hauptstadt des Irans, wo sie zwischen August und Dezember 1942 auf ihr weiteres Schicksal warteten.
Basierend auf der Geschichte ihres Vaters, der auch ein "Kind von Teheran" war, verfolgt die Literaturwissenschaftlerin die Spuren der "Kinder von Teheran" auf ihrer Reise von Polen bis in das Gebiet des heutigen Israel. Dabei erzählt sie nicht nur die Geschichte dieser Kinder, sondern auch die Geschichte der Hundertausenden von Menschen, die vor den Nationalsozialisten gen Osten flohen, beziehungsweise in die Sowjetunion deportiert wurden. Die Schicksale dieser Menschen präsentiert Dekel als Teil der Geschichte des Holocaust, wodurch sie vom dominanten Geschichtsbild der Ghettos und Vernichtungslager abweicht und die Erfahrung der Flucht in den Vordergrund rückt (20). In neun Kapiteln erfährt der Leser von der aufgrund des deutschen Überfalls erzwungenen Flucht der jüdischen Bevölkerung aus Polen, den Deportationen aus den von der Roten Armee besetzen polnischen Gebieten in die Sowjetunion und der dort geleisteten Zwangsarbeit. Nach ihrer Entlassung mussten die jüdischen Flüchtlingskinder mit ihren Familien die Reise aus dem Norden der Sowjetunion nach Zentralasien, die Arbeit in den dortigen Kolchosen und den ständigen Kampf gegen Hunger und Krankheiten überleben, bevor sie Teheran und danach Palästina erreichten. Auch wenn das Phänomen der Zwangsmigration mit allen ihren negativen Aspekten keine ausschließlich jüdische Erfahrung war, konstatiert Dekel, dass davon "unverhältnismäßig viele Juden" (208) betroffen gewesen seien. Im Laufe der Erzählung drängen sich immer wieder Vergleiche der Geschichte jüdischer Flüchtlinge im Osten mit dem dominanten Holocaust-Geschichtsbild auf, beispielhaft bei einem Foto jüdischer Flüchtlingskinder in einem Teheraner Krankenhaus (291). Abgebildet sind sie darauf in einem äußerst schlechten Allgemeinzustand, "bis aufs Skelett abgemagert und mit trübem Blick" (290). Genauso gut, so bemerkt Dekel zu Recht, könnte es sich bei dem Bild um Kinder handeln, die aus einem KZ befreit worden waren.
Die Darstellung basiert in erster Linie auf Interviews, die mit den Kindern 1943 nach ihrer Ankunft in Jerusalem geführt wurden. Diese ergänzt Dekel um Gespräche, die sie selbst mit noch lebenden Zeitzeugen führte. Neben weiteren Ego-Dokumenten wurde Archivmaterial aus Polen, Russland, Usbekistan und den USA hinzugezogen. Obwohl Dekels gründliche Recherche und breite Quellenbasis überzeugen, würde man sich an manchen Stellen klare Referenzen wünschen, damit der Leser zwischen Quelleninhalt und Quellenanalyse unterscheiden kann. Die Erzählung der Geschichte der "Kinder von Teheran" wird in einer zweiten Ebene von reportageartigen Abschnitten unterbrochen, in denen Dekel eigene Erfahrungen und Überlegungen zu ihren Recherchereisen schildert.
Einen wichtigen Beitrag leistet Dekel, indem sie die Perspektive der Kinder darstellt. Im Vergleich zum angloamerikanischen Raum spielen Kinder in der deutschen Geschichtsforschung immer noch eine marginale Rolle. [2] Dabei liefern gerade deren Perspektive und die Politik ihnen gegenüber, einen wichtigen Beitrag zur Erweiterung der Gesellschaftsgeschichte: Einerseits haben Kinder ein einzigartiges Verständnis von der Welt, andererseits stellen sie für die staatlichen Autoritäten eine wichtige Ressource dar, die in politischen Agenden Berücksichtigung fand. [3] Die "Kinder von Teheran" und die jüdischen Kinderflüchtlinge in Zentralasien insgesamt waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die polnische Exilregierung, Autoritäten des neu entstehenden Staates Israel und nicht zuletzt auch die sowjetischen Autoritäten, die ihre Ausreise aus der Sowjetunion zu verhindern versuchten, bekundeten ihr Interesse an den Kindern. Selbst nach ihrer Ankunft im britischen Mandatsgebiet Palästina setzte sich der Kampf um sie im Kontext des neu entstehenden Staates unter den einzelnen politischen und religiösen Parteien fort. Wie Dekel im Verlauf ihrer Studie aufzeigt, wirkte sich dieser Kampf auf die (nationale) Identität der "Kinder von Teheran" aus, deren (Selbst-)Identifizierung in manchen Abschnitten ihres Weges zur Überlebensstrategie wurde (310f.).
Der Verfasser stellt die Kinder als Akteure dar, die, wenn sie die Möglichkeit dazu hatten, ihren Alltag und ihr Schicksal selbst mitgestalteten. Am Beispiel ihres Vaters und anderer Verwandter verfolgt Dekel die Veränderung (nationaler) Identität vom polnischen Juden hin zum "Kind Israels". Sie thematisiert die unterschiedlichen Einflüsse, denen ihr Vater auf seinem Weg als Flüchtling ausgesetzt war, muss jedoch letztlich den bereits bekannten Forschungsstand bestätigen, dass die Selbstidentifizierung der Kinder vom zunehmenden Nationalismus im internationalen Umgang mit Flüchtlingskindern am Ende des Zweiten Weltkriegs geprägt gewesen sei (357). [4]
Dekel hat ein ausgesprochen lesenswertes Werk vorgelegt. Durch ihre umfangreichen Recherchen beleuchtet sie das wenig erforschte Thema der jüdischen Flüchtlinge und ihre erzwungene Reise von Polen in die Sowjetunion und den Nahen Osten vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs. Als Literaturwissenschaftlerin ist es ihr zugleich gelungen, durch die gewählte(n) Textsorte(n) und nicht zuletzt auch ihren persönlichen Bezug zum Thema ein besonders gut lesbares Buch zu schreiben, das ein weites Publikum sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Welt ansprechen wird.
Anmerkungen:
[1] Werner C. Barg / Stephan M. Vogel: ZDF History: Die Odyssee der Kinder, Film, Erstausstrahlung 09.11.2008; Henryk Grynberg: Kinder Zions. Dokumentarische Erzählung, Leipzig 1995; Jutta Vogel: Die Odyssee der Kinder. Auf der Flucht aus dem Dritten Reich ins Gelobte Land, Frankfurt am Main 2008.
[2] Vgl. Martina Winkler: Kindheitsgeschichte. Eine Einführung, Göttingen 2017, 11.
[3] Vgl. ebenda, 12, 104, und Martha Saxton: Introduction into the First Volume of the "Journal of Childhood and Youth", in: The Global History of Childhood Reader, hg. von Heidi Morrison, New York 2012, 103-104.
[4] Vgl. z. B. Tara Zahra: "A Human Treasure". Europe's Displaced Children between Nationalism and Internationalism, in: Past & Present 210 (2011), 6, 332-350, und Tara Zahra: The Lost Children. Reconstructing Europe's Families after World War II, Cambridge, MA 2011.
Michal Korhel