Rezension über:

Boris Roman Gibhardt: Nachtseite des Sinnbilds. Die Romantische Allegorie (= Ästhetik um 1800; Bd. 13), Göttingen: Wallstein 2018, 224 S., 10 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3272-0, EUR 24,90
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Rezension von:
Jan Urbich
Institut für Germanistik, Universität Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Jan Urbich: Rezension von: Boris Roman Gibhardt: Nachtseite des Sinnbilds. Die Romantische Allegorie, Göttingen: Wallstein 2018, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/03/32245.html


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Boris Roman Gibhardt: Nachtseite des Sinnbilds

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Um die Allegorie ist es in letzter Zeit literaturtheoretisch etwas stiller geworden. Damit ist nicht gemeint, dass nicht weiterhin regelmäßig fallgeschichtliche oder theoriefokussierte Arbeiten erscheinen, welche die Bildlogik allegorischer Darstellung zu analysieren suchen - die anhaltende Wirkkraft des "pictoral turn" in den Kulturwissenschaften, der eine ganze Generation von Senior- oder Nachwuchswissenschaftler:innen an die Futtertröge der Drittmittelversorgung gebracht hat und immer noch bringt, steht dem bereits ökonomisch im Wege. Aber die Zeit, in der vor allem in Bezug auf zwei mythische Theoretiker der Moderne die Allegorie beinahe zum Schlüsselbegriff poetisch-ästhetischer Darstellungslogik fetischisiert wurde - gemeint sind einerseits Walter Benjamin und sein Allegoriebegriff im Trauerspielbuch, in den Baudelaire-Studien und auch im Passagen-Werk, andererseits Paul de Mans Allegories of Reading -, sind wohl vorüber. Die Ausnüchterung dieses Theoriedeliriums eröffnet nun wieder die Chance, ohne überspannte Erlösungshoffnungen Formen und Funktionsweisen einer wichtigen Fundamentalmöglichkeit bildlicher Semantik vor allem aus historischer Perspektive und in feinerer historischer Körnung in den Blick zu nehmen. Die im Rahmen des Jenaer Schwerpunktprogramms "Ästhetische Eigenzeiten" entstandene Arbeit von Boris Roman Gibhardt unternimmt dies für die romantische Allegorie und im interdisziplinären Blick auf deren sowohl bildkünstlerische als auch dichterische Konzeptualisierung sowie Praxis.

Der Auftakt mit einer ausführlicheren Bildinterpretation von Philipp Otto Runges Gemälde "Der Morgen" gibt dabei sowohl die thematische Richtung als auch den Tonfall der Arbeit vor: "Das, was wir sehen, ist mithin eine Entität, die sich von ihrer referentiellen Abbildfunktion löst und durch die Präsentation einer Zäsur gegenüber der Repräsentation setzt. Das Bild lokalisiert das Verborgene an der Schwelle dessen, was auf Abstand gehalten wird, zu dem, was dieses ersetzen soll." (12). Am Beispiel Runges wird die Allegorie, so die Arbeitshypothese zu Beginn, als "Disjunktion von Gegenstand und Bedeutung" (13) gefasst, in der die überspannte Erwartung der Transitivität vom Bildzeichen auf ein Gemeintes (man denke an die zeichentheoretischen Überlegungen Lessings und Schillers in dieser Epoche) durch den unüberbrückbaren letzten Abstand zwischen beiden sowie durch die ausgestellte Irreduzibilität des Bildzeichens in seiner Darstellungslogik sich negiert findet. Dieser differenz-, entzugs-, supplement- und verschiebungstheoretische Allegoriebegriff soll, so die These der Arbeit, als "das historische Spezifikum romantischer Zeichentheorie vor dem Hintergrund konkreter Werkanalyse[n]" in den folgenden Kapiteln erhellt werden. Dabei soll es spezifisch für den romantischen Allegoriebegriff sein, dass dieser einerseits die Geschichte der konventionellen Allegorieverwendung und ihrer bildsemantischen Aktualisierungen noch weiterhin mit sich führt, d.h. diesen Traditionsraum und seine Bildprogramme gerade nicht einfach verabschiedet, und andererseits jedoch als "Besinnung der Darstellung auf sich selbst" (14) autonomieästhetisch sein beständiges Scheitern bezüglich der konventionellen Sinnerwartung reflexiv zum Modus des Funktionierens macht. Für Gibhardt realisiert sich gerade darin eine "Freiheit und Alterität des romantischen Bildes" (15), indem die ausgestellte "Unverfügbarkeit des Bezeichneten im Zeichen" (16) auf die reine Zeichenhaftigkeit von Sinn und Bezeichnung zurückverweist, und so die Allegorie zum modernen kritischen Superzeichen des Bezeichnens und Verweisens überhaupt von den Romantikern entdeckt wird.

Die Entfaltung dieser These über die folgenden Kapitel kann hier nicht im Einzelnen verfolgt werden. Gibhardt führt diesen Gedanken nicht nur an einer Fülle von romantischen Beispielen v.a. aus Bildender Kunst, aber auch Dichtung, Poetik, Wissenschaft und Philosophie vor, wobei wie gesagt die Bildwelten Runges das Grundthema und den verbindenden Gegenstand abgeben; er führt ihn auch weiter aus, indem bspw. gerade die Zwischenstellung des romantischen Allegoriekonzepts - zwischen der Reaktivierung gelingender allegorischer Bedeutungsvermittlung und ihrer Problematisierung im skizzierten 'modernen' Sinn - immer wieder in den Blick genommen wird. Die fundamentale Unsicherheit einer zeichentheoretischen Zeitenwende um 1800, die im Allegoriekonzept greifbar werden soll, und die mit ihr auch die historisch verbundene Suchbewegung einer Schwellenzeit, in der mittels der Allegorie das künstlerische Bezeichnen selbst gerade dort, wo es romantisch mit höchsten Funktionsansprüchen (hin auf das Unendliche) belehnt wird, verstärkt seiner Grenzen und Aporien eingedenk, gerät bspw. auf überzeugende Weise in den verschiedenen Thematisierungen der Zeitlichkeit und Exzessivität allegorischer Phänomene sowie den Grenzüberschreitungen von Text und Bild, Imagination und Materialität in den Blick. Gibhardts Argumentation ist dicht, manchmal etwas zu dicht, sodass man sich zuweilen mehr Passagen entfaltender Explikation wünscht, sprachlich aber zugleich höchst durchformuliert und um Exaktheit des Ausdrucks glücklich bemüht. Der durchgängige dekonstruktivistische Unterstrom in diesem Allegoriebegriff, der die Argumentation an die Forschungstradition zur romantischen Zeichentheorie bspw. von Bettine Menke (Prosopopoiia) und Winfried Menninghaus (Unendliche Verdopplung) anzuschließen scheint, mag vielleicht als etwas zu alternativlos gesetzt sein; andererseits ermöglicht seine konsequente Voraussetzung, dieses Konzept mit weniger explizitem Theorieballast am ausgewählten Bild- und Sprachmaterial zugleich weitaus stringenter und sensibler für die Besonderheiten der einzelnen Gegenstände, also konkret zu durchdenken, als das in den Vorgängerarbeiten der Fall war. Was man sich von der Arbeit vielleicht gewünscht hätte, wäre indes eine übersichtliche Synthese der Theorieelemente des Allegoriebegriffs, die in den Einzelanalysen sukzessiver hervortreten, am Schluss gewesen; das könnte aber leicht nachzureichen sein. Gibhardts konzise, dichte Studie wird sicherlich einen wichtigen Rang im Konzert der Erkundungen romantischer Allegorie und Allegorietheorie einnehmen, denn sie legt gewichtige Gründe für die Hypothese vor, dass in den romantischen Bildwelten der Ursprung des modernen Krisenbewusstseins ästhetischer Darstellung gerade im Moment ihrer autonomieästhetischen Überforderung geschieht.

Jan Urbich