Rezension über:

Anu Bradford: The Brussels Effect . How the European Union Rules the World, Oxford: Oxford University Press 2020, XIX + 404 S., ISBN 978-0-19-008858-3, GBP 25,99
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Rezension von:
Bastian Matteo Scianna
Universität Potsdam
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Bastian Matteo Scianna: Rezension von: Anu Bradford: The Brussels Effect . How the European Union Rules the World, Oxford: Oxford University Press 2020, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/03/34294.html


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Anu Bradford: The Brussels Effect

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Welche globale Rolle kommt der Europäischen Union (EU) heute zu? Können die Europäer international Verantwortung übernehmen, ihr demokratisches und marktwirtschaftliches Modell exportieren und westliche Werte schützen? Seit dem 24. Februar 2022 fällt die Antwort hierauf vermutlich noch verhaltener aus. Zur Jahrtausendwende war der Optimismus über das Zukunftsprojekt EU fast grenzenlos. "Why Europe will run the 21st century", legte beispielsweise Mark Leonard ausführlich dar. Diese Selbstverortung Europas und der europäischen Einigung als zukunftsweisendes Projekt ist dabei keineswegs neu. Oft geschah sie in Abgrenzung zu den USA. Doch greift der meist auf die innere Ausgestaltung der EU oder ihre Fähigkeit zur außen-, verteidigungs- und sicherheitspolitischen Machtprojektion gerichtete Blick nicht zu kurz? Diese Frage stellt Anu Bradford und liefert neue Erklärungsansätze, wieso die EU weltweit nicht nur Vorbild bleiben werde, sondern bereits heute in vielen Feldern zentrale Maßstäbe vorgebe.

Die an der Columbia Universität lehrende Professorin für Rechtswissenschaften sieht den "Brussels Effect" darin, dass die EU im globalen Handel wichtige Standards festlege und sukzessive auf Bereiche wie Daten-, Verbraucher- und Umweltschutz ausweite. Dies schließe auch juristische Aspekte im Kartell-, Medien- und Presserecht sowie eine starke regulatorische Präsenz in der digitalen Welt ein. Brüssel gebe den Takt vor, der Rest der Welt müsse meist zähneknirschend zustimmen oder weitgehende Kompromisse eingehen, da hiermit auch der Zugang zum europäischen Binnenmarkt zusammenhänge. Statt diese Bereiche den Regulierungskräften des freien Marktes oder anderen internationalen Organisationen zu überlassen, übe die EU somit langfristig wirtschaftspolitische Macht als "Global Regulatory Power" (7) aus. Damit könne, so Bradford, dem tendenziell zunehmenden Bedeutungsverlust der volkswirtschaftlichen Kraft (und somit der politischen Gestaltungsfähigkeit) Europas entgegengewirkt werden.

Wer die Spielregeln des globalen Handels entscheidend mitbestimme, so könnte man Bradfords Kernthese prägnant zusammenfassen, habe nicht nur die besseren Karten in der Hand, sondern exportiere hierdurch gleichfalls die Werte und die Ziele des europäischen Projektes: Soft power à l'européenne also im regulatorischen Gewand.

Das hier vorliegende Werk ist trotz der abstrakt und sehr technisch anmutenden Themenfelder sehr zugänglich geschrieben. Anu Bradford führt zunächst ihre theoretischen Annahmen aus. Hierbei geht sie auf die Ursprünge der EU als "Global Regulatory Power" ein und erläutert ihr bereits 2012 entwickeltes Modell des "Brussels Effects" nochmals sehr detailliert. Im zweiten Abschnitt analysiert Bradford vier Fallbeispiele: Marktwettbewerb, Digitalwirtschaft, Gesundheit und Sicherheit der Verbraucher, sowie Umweltaspekte.

Im dritten Teil ihrer Studie untersucht Bradford den Nutzen des "Brussels Effect" und stellt Überlegungen zu seiner Zukunft an. Ob der Effekt von Nutzen - und für wen - sei, bleibt etwas pauschal beantwortet. Der "Brussels Effect" existiere nun einmal, und man könne ihn, selbst wenn man ihn negativ sehe, nicht einfach wegdiskutieren. In eine ähnliche Richtung zielt die Argumentation hinsichtlich der Zukunft des Effektes: Er werde fortbestehen, trotz Brexit, weiteren Fliehkräften und einer Erstarkung post-demokratischer Wirtschaftsmodelle.

Bradfords Thesen sind in vielen Punkten einleuchtend und ihr Fokus auf die Wirkmächtigkeit von soft power eine willkommene Ergänzung zu gängigen Klischees über angeblich wehr- und einflusslose Europäer. Dennoch bleibt eine dem Stil des Buches geschuldete Teleologie und Alternativlosigkeit, die bei Historikern an der ein oder anderen Stelle Widerspruch evozieren oder zumindest den Wunsch nach einer breiteren Quellenbasis aufkommen lassen könnte. Aber es handelt sich eben um keine erschöpfende historische Darstellung, sondern eine Bestandsaufnahme, die auch in die Zukunft blickt. Bradford hat eine gut lesbare Studie vorgelegt, die mit ihrer Stringenz und Thesenfreudigkeit wichtige Stimuli liefert. Viele von ihr angesprochene Themenfelder, etwa die Umweltpolitik, werden zudem durch die historische Integrationsforschung immer detaillierter untersucht und können somit an Bradfords gegenwartsfokussierte Thesen anknüpfen. Allerdings müsste man auch die Frage stellen, wie dieser regulatorische Einfluss durch smart oder hard power gegen Autokratien und illiberale Systeme unterstützt werden könnte, um die Errungenschaften der europäischen Integration so zu sichern, dass man sie auch noch im 22. Jahrhundert als Vorbild preisen oder zumindest als solches diskutieren kann.

Bastian Matteo Scianna