Rezension über:

Geoffrey Roberts: Stalin's Library. A Dictator and his Books, New Haven / London: Yale University Press 2022, VIII + 259 S., 14 s/w-Abb., ISBN 978-0-300-17904-0, GBP 25,00
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Rezension von:
Michael Ploetz
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Michael Ploetz: Rezension von: Geoffrey Roberts: Stalin's Library. A Dictator and his Books, New Haven / London: Yale University Press 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 3 [15.03.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/03/36763.html


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Geoffrey Roberts: Stalin's Library

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Der sowjetische Diktator Jossif Wissarionowitsch Stalin war einer jener Gewaltherrscher, die eine breite Blutspur durch das 20. Jahrhundert zogen und nahezu unendliches Leid verursachten. Gleichzeitig war Stalin aber auch ein überaus befähigter Mensch, der durch eine intensive und weitgefächerte Lektüre von Büchern seine Entscheidungskompetenz beharrlich zu verbessern suchte. Bei seinem Tod umfasste seine Bibliothek circa 25.000 Bücher, Zeitschriften und Pamphlete. In den Texten, die er durcharbeitete, hinterließ er vielfältige Spuren; Unterstreichungen und Randvermerke geben Aufschluss über seine Denkprozesse bei der Lektüre. Leider ist seine Bibliothek nicht als Ganzes erhalten geblieben. Nach Stalins Demontage durch seinen Nachfolger Chruschtschow verlor seine Bibliothek den sakralen Charakter einer Reliquie, den sie unmittelbar nach seinem Tod im März 1953 noch besessen hatte. Während seine Sammlung belletristischer Werke spurlos verschwand, wurden seine Fachbücher an entsprechende Bibliotheken abgegeben. Das Archiv der KPdSU übernahm jedoch fast 400 Texte, in denen sich Annotationen oder Hervorhebungen Stalins befinden. Geoffrey Roberts hat diesen Bestand nun als Ausgangspunkt dafür gewählt, den Kreml-Herrscher als einen Intellektuellen zu skizzieren, der Texte nicht nur akribisch durcharbeitete, sondern auch selbst verfasste und in einem ganz erheblichen Umfang fremde Texte redigierte.

Trotz seiner weitgestreuten Interessen und seiner Wertschätzung für Literatur las Stalin in erster Linie in seiner Eigenschaft als bolschewistischer Intellektueller und Revolutionär, der vor allem in den Werken marxistischer Autoren Aufschluss zur Bewältigung der Probleme seiner Gegenwart suchte. Zu seinem frühen Selbstverständnis schreibt Roberts: "Stalin saw himself as neither a worker nor a peasant but as, in effect, an intellectual whose task it was to spread enlightenment and socialist consciousness" (48). Der wichtigste und am meisten gelesene Autor in seiner Bibliothek war Lenin, der wiederum in Stalins eigenen Schriften und Reden die bei weitem am meisten zitierte Referenzperson war. Neben der bis zu seinem Lebensende fortgesetzten Lektüre des bolschewistischen Revolutionsführers stand die gleichfalls fortlaufende Beschäftigung mit den Werken von Marx und Engels. Während Stalin Lenin zutiefst verehrte, hinderte ihn seine Todfeindschaft gegenüber Leo Trotzki aber nicht daran, auch dessen Werke intensiv zu studieren und mit zustimmenden Kommentaren zu versehen. So hinterließ Stalin viele Zeichen der Anerkennung in Trotzkis Schrift "Terrorismus und Kommunismus", in der sein späterer Widersacher die Auseinandersetzung mit dem deutschen Sozialdemokraten Karl Kautsky über die Frage des Roten Terrors geführt hatte. In ihrer Bereitschaft, revolutionäre Ziele durch den massiven Einsatz brutalster Gewalt zu erreichen, waren sich Stalin und Trotzki, aber auch Lenin, zweifellos einig.

Ein weiteres wichtiges Interessengebiet des sowjetischen Diktators waren geschichtswissenschaftliche Bücher. Er war sichtlich fasziniert von der Antike, insbesondere der Geschichte des Römischen Reiches. In der Welt der griechischen Polis gab Stalin Sparta den Vorzug vor Athen. Edward Gibbons Aphorismus, dass die Römer meinten, Soldaten müssten ihre Offiziere mehr fürchten als den Feind, fand bezeichnenderweise Stalins Zustimmung. Robert Wippers Buch über das Römische Reich arbeitete er besonders gründlich durch, allerdings ohne Randvermerke zu hinterlassen. In den historiographischen Kontroversen seiner Zeit agierte Stalin als Traditionalist, der die soziologisch orientierten Ansätze von Michail Pokrowski als für Schulbücher ungeeignet verwarf: "They talk about the 'epoch of feudalism', the 'epoch of industrial capitalism', the 'epochs of formations' - all epochs, no events, no people, no concrete information, no names, no titles, no content" (131). Natürlich beschäftigte sich Stalin auch mit den russischen Zaren, deren machtpolitisches Erbe er anerkannt wissen wollte, obgleich er ihnen weit distanzierter gegenüberstand als den marxistischen Autoren, mit deren Werken er ein stetiges politisches Zwiegespräch führte. Als oberster Impresario der UdSSR sorgte Stalin dafür, dass seine Sicht der Zaren in Romanen und Theaterstücken wie denen von Alexei Tolstoi über Peter den Großen und Iwan den Schrecklichen, aber auch in den Filmen von Sergei Eisenstein Verbreitung fand.

Aufgrund der Tatsache, dass Stalin seit dem russischen Bürgerkrieg militärische Kommandofunktionen ausübte, waren militärwissenschaftliche und kriegsgeschichtliche Werke fester Bestandteil seiner Lektüren. Hierbei zählte Boris Schaposchnikow, dessen Karrierehöhepunkt sein zweimaliger Dienst als Generalstabschef der Roten Armee war, zu den Autoren aus der unmittelbaren Umgebung des Diktators. Während Schaposchnikows 1924 erschienene Studie über den 1920 fehlgeschlagenen Polenfeldzug der Roten Armee auch Stalins Rolle bei diesem Unternehmen analysierte, wird sein Hauptwerk "Gehirn der Armee" allgemein als Matrix für die Funktionsmechanismen des sowjetischen Oberkommandos im Zweiten Weltkrieg betrachtet. Das hier enthaltene Diktum, in der modernen Gesellschaft bedeute Mobilmachung Krieg und müsse deshalb als Kriegserklärung gewertet werden, interpretiert Roberts im Hinblick auf Stalins Verhalten vor dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 folgendermaßen: Stalin habe gefürchtet, mit einer rechtzeitigen Mobilmachung den Krieg auszulösen.

Insgesamt war Stalin tief in der russisch-sowjetischen Tradition des militärstrategischen Denkens verwurzelt und verfolgte aufmerksam die innovativen militärtheoretischen Debatten der Zwischenkriegszeit über tiefe Operationsführung und eine umfassende Mechanisierung der Streitkräfte. Mit dem preußischen Kriegsdenker Carl von Clausewitz vermochte er sich dagegen nicht anzufreunden. Dies unterschied ihn deutlich von Lenin, dessen Unterstreichungen und Randvermerke in seiner Clausewitz-Ausgabe 1957 in einem kleinen Bändchen publiziert wurden. [1] Stalin hielt Clausewitz für veraltet; er sah in ihm einen Repräsentanten des Manufakturzeitalters und nicht der Gegenwart industrialisierter Kriege. Beim Studium älterer Kriege zeigte sich Stalins Vorliebe dafür, das Geschehen statistisch aufzuschlüsseln: So notierte er zum Großen Nordischen Krieg Peters des Großen dessen 21-jährige Dauer sowie Informationen zur Zahl der mobilisierten, getöteten und desertierten Soldaten. Roberts setzt dies in Beziehung zu dem Bild moderner Kriegsführung, das Stalin in seinen Ausführungen über den sowjetisch-finnischen Winterkrieg im April 1940 und in seiner Rede vor den Absolventen der Generalstabsakademie am 5. Mai 1941 skizzierte.

Roberts Buch "über den Diktator, der Bücher liebte" (210) zeigt Stalin aber auch als Kulturpolitiker, der die sowjetische Literaturproduktion anhand seiner eigenen ästhetischen Kriterien und weniger anhand der Erfordernisse von Agitation und Propaganda zu organisieren trachtete. Neben der Wertschätzung, die er für die russische Literatur des 19. Jahrhunderts empfand, war er auch in Grenzen bereit, zeitgenössische Werke nicht-proletarischen Charakters wie die von Michail Bulgakow wegen ihrer künstlerischen Qualitäten zu tolerieren. Insgesamt zeichnet Roberts Stalin in einem eher milden Licht. Dies liegt daran, dass er die unzweifelhaften Stärken des Diktators herausarbeitet, sich aber kaum mit dessen ungezählten Opfern aufhält. Von dem im Gulag 1938 zugrunde gegangenen Dichter Ossip Mandelstam erfährt der Leser zum Beispiel nur, wenn er sich vom Personenregister zu einer Fußnote führen lässt, in der uns bezeichnenderweise wiederum ein Stalin entgegentritt, der 1934 am Schicksal Mandelstams geradezu väterlich-fürsorglich Anteil nahm. Zum Charakter Stalins gibt Roberts aber immerhin folgende Einschätzung: "Actually, Stalin had a high degree of emotional intelligence. What he lacked was compassion or sympathy for those he deemed enemies of the revolution" (7). Das hier besprochene Buch verdient zweifellos einen Platz in der Forschungsliteratur zu Stalin; in mancherlei Hinsicht ist es eine gute Ergänzung zu der auf drei Bände angelegten Biographie Stephan Kotkins, in deren wuchtiger Monumentalität sich viele Details eher verlieren als auffinden lassen. [2] Als alleiniges Werk zum Verständnis von Stalin und seiner Zeit ist "Stalin's Library" aber keinesfalls geeignet.


Anmerkungen:

[1] Wladimir Iljitsch Lenin: Clausewitz' Werk "Vom Kriege". Auszüge und Randglossen, hg. vom Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED, Berlin (Ost) 1957.

[2] Bislang sind Band I und II erschienen: Stephen Kotkin: Stalin, Vol. 1: Paradoxes of Power, 1878-1929, New York 2014; ders.: Stalin, Vol. 2: Waiting for Hitler, 1928-1941, New York 2017.

Michael Ploetz