Andreea Badea / Bruno Boute / Marco Cavarzere et al. (eds.): Making Truth in Early Modern Catholicism (= Scientiae Srudies), Amsterdam: Amsterdam University Press 2021, 335 S., ISBN 978-94-6372-052-6, EUR 117,00
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Making Truth in Early Modern Catholicism ist ein Sammelband mit zwölf Aufsätzen, die sich mit dem Wahrheitsbegriff - und der "Herstellung" von Wahrheit - in der frühneuzeitlichen katholischen Welt befassen. Eine programmatische Einführung der vier Herausgeber*innen, die einen wichtigen Forschungsbeitrag darstellt, eröffnet den Band.
Es ist der Begriff "Wahrheit", der im Buchtitel hervorsticht. Aber wie die Herausgeber betonen, musste selbst die nach der tridentinischen Reform "in Marmor gemeißelte" katholische Welt eher mit Unsicherheit, Zweifeln und Zwischenzonen umgehen. Katholiken, sowohl die katholischen Autoritäten als auch einfache Gläubige, mussten ihren Weg finden und sich den Umständen anpassen, besonders in einer global erweiterten Realität.
Zahlreich sind die Historiker und Philosophen, deren Überlegungen in dieser Einführung Eingang finden - unter anderem Michel de Certeau, Bruno Latour und Pierre Bourdieu -, und sie sind äußerst wichtig, um das Erkenntnisziel der Herausgeber zu verstehen. Unter Rückgriff auf die Praxeologie wollen sie einen interdisziplinären methodischen Ansatz entwickeln, der nicht nur für die Religions- und Wissensgeschichte typisch ist, sondern auch für die Wissenschaftsgeschichte. In den Vordergrund rückt nicht, wie die Dinge hätten sein sollen (in der Theorie), sondern wie sie im Alltag waren.
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die lateinische Definition von "Tatsache": "facta", das Geschaffene. Daher macht die Suche nach eindeutigen "Fakten" in der Geschichte (und auch in der Wissenschaft überhaupt, wie jüngst selbst von Vertretern der Naturwissenschaften zugestanden wurde) keinen Sinn, und selbst wenn dies der Fall wäre, wäre die Tatsache per se nicht objektiv. Was die Autoren dieses Buches suchen, ist nicht Wahrheit, sondern "Glaubwürdigkeit": und die Versuche, selbige zu schaffen kann in Quellen gefunden werden, die die tatsächlichen Praktiken widerspiegeln: Aktenüberlieferungen aus den Kongregationen und kurialen Gremien und Behörden, Briefe, Petitionen und auch Belletristik.
Ein weiteres wichtiges Element des Bandes ist sein Fokus auf die Pluralität der "Katholizismen" auf der ganzen Welt. Studien von Simon Ditchfield und Peter Burke machten deutlich, dass es in der Frühen Neuzeit keinen einheitlichen römischen Katholizismus gab. Eine solche Perspektive vertritt auch die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte und an der Goethe-Universität Frankfurt angesiedelte Forschungsgruppe POLY unter der Leitung von Birgit Emich ("Polycentricity and Plurality of Premodern Christianities, ca. 700-800 CE"), zu der zwei der Herausgeber (Badea und Boute) gehören.
Das Buch ist in drei Abschnitte unterteilt, die den Möglichkeiten entsprechen, wie die Idee der "Wahrheit" dargestellt und angepasst werden konnte, wobei sich der erste auf Akkommodation konzentriert. Das Konzept der accommodatio, das heißt Anpassung an lokale Kulturen, Bräuche und Sprachen (wenn diese nicht in klarem und offenem Gegensatz zum Katholizismus standen) ist wohlbekannt und wird hauptsächlich mit der Gesellschaft Jesu in Verbindung gebracht. Allerdings waren Anpassungspraktiken für jeden Katholiken notwendig, unabhängig davon, ob er in vertrauten Gebieten lebte oder in den exotischsten und entferntesten Zivilisationen missionarisch tätig war. Rom als zentraler Knotenpunkt ist ein geeigneter Ausgangspunkt, um die verschiedenen Schattierungen des Katholizismus zu studieren, und die Missionsgebiete sind eindeutig grundlegende case-studies.
Rudolf Schuessler untersucht die Herangehensweise der Gelehrtengemeinschaft an Meinungsverschiedenheiten. Kontroversen der Frühen Neuzeit kamen zu dem Schluss, dass auch in einer Perspektive der una ecclesia die Möglichkeit der Koexistenz mehrerer Meinungen bestehe, die alle als gleich "wahrscheinlich" angesehen werden konnten. Marco Cavarzere untersucht den faszinierenden Fall von Eiden, die von katholischen und nicht-katholischen Parteien im Zusammenhang mit Handelsvereinbarungen in/mit Indien geleistet wurden: Waren die "falschen" (aus römischer Sicht) Götter in der Lage, eine vertrauenswürdige Vereinbarung zu garantieren? Steven Vanden Broecke befasst sich mit dem Studium der Kosmologie in den habsburgischen Niederlanden, in denen Galileis Theorien offiziell verurteilt worden waren, gleichzeitig aber weiterhin der kopernikanische Heliozentrismus gelehrt wurde. Brendan Röder demonstriert, wie die römischen Behörden dazu neigten, in Fällen, in denen Geistliche Behinderungen (wie Krankheiten und Verstümmelungen) aufwiesen, die mit Blick auf klerikale Ämter Bedenken hervorriefen, mehr an die Vox populi zu glauben, als an ärztliche Meinung.
Im zweiten Abschnitt geht es um das "Performing", im Sinne von "pretending", aber auch "acting as if": In dieser Perspektive untersucht Bruno Boute die Spendung des Bußsakramentes als darstellenden Akt. Birgit Emich konzentriert sich auf Prozesse der Selig- und Heiligsprechungen, die in der Frühen Neuzeit vollständig reformiert wurden. Danach waren an ihnen zuerst Juristen und Sachverständige (zur Beurteilung heiliger Ereignisse berufen), dann als zweite Instanz Geistliche (wie die Kardinäle) beteiligt. Am Ende aber war der Papst der Einzige, der die Seligen oder Heiligen verkündete. Andreea Badea verwendet das Beispiel der potenziell gefährlichen Werke, die von "skeptischen" Katholiken geschrieben wurden (wie die Acta Sanctorum der Bollandisten und Mabillons Epistola de cultu sanctorum ignotorum), um eine der möglichen römischen Reaktionen auf Veränderungen zu zeigen: Gegenangriff mit Diskreditierungskampagnen zur Etablierung der auctoritas in historisch-religiösen Materien. Maria Pia Donato konzentriert sich insbesondere auf die Wissenschaftsgeschichte und untersucht die Ansätze zur sakramentalen Physik in der Eucharistie, während Leen Spruit die Wechselwirkungen und Konflikte zwischen der philosophischen Psychologie und der römischen Orthodoxie untersucht.
"Embedding" ist der Titel des letzten Teils, der von Vittoria Fiorellis Aufsatz über den Neapolitaner Giacinto del Cristofaro eröffnet wird. Er hilft zu verstehen, was damals als "Atheismus" galt - und als solcher verurteilt wurde. Cecilia Cristellon verwendet die Erklärung Benedikts XIV. (1741) als Linse, durch die die Bemühungen der Kirche gewürdigt werden, ein allgemeines Problem der Zeit anzugehen: nämlich die Ehen ohne Priesterbesuch zwischen Katholiken und Nichtkatholiken oder zwischen Nichtkatholiken. Die Schlussfolgerungen von Rivka Feldhay laden dazu ein, die Geschichte der Frühen Neuzeit nicht als linearen Weg zur fortschreitenden Autonomie der religiösen, politischen und wissenschaftlichen Sphären zu betrachten, sondern als eine anregende Phase der Verflechtung.
Der vorliegende Band bietet eine reichhaltige und dichte Sammlung von Aufsätzen, die "Wahrheit" aus komplementären Perspektiven betrachten. Die an dem Projekt beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind Historiker und Wissenschaftsphilosophen, die sich alle mit unterschiedlichen Ansätzen auf unterschiedliche Quellen konzentrieren und zur Beantwortung der spannenden Fragen beitragen, die die Autoren in ihrer Einführung stellen. Die mit einer Auswahlbibliografie schließende Publikation bildet eine gute Grundlage für weitere Studien in diese Richtung. Bemerkenswert ist die Gesamtqualität. Weil argumentationsklar und breit gefächert ist zu hoffen, dass dieses Buch eine fruchtbare und kohärente Diskussion unter all jenen anstoßen wird, die sich mit der Frühen Neuzeit in all ihren Facetten auseinandersetzten.
Elisa Frei