Greta Hawes: Pausanias in the World of Greek Myth, Oxford: Oxford University Press 2021, XI + 237 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-883255-3, GBP 75,00
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Begibt man sich auf eine Reise in die Tiefen der griechischen Mythologie, wird man bereits auf den ersten Schritten mit der Vielschichtigkeit dieses fest in der antiken Lebenswelt verwurzelten Komplexes ebenso konfrontiert wie mit den ihm inhärenten Widersprüchlichkeiten und Inkohärenzen, für die sich oftmals keine einfachen und eindeutigen Erklärungen finden lassen. Die Probleme und Herausforderungen, die sich hieraus ergeben, ähneln durchaus denen, vor die sich Leserinnen und Leser der Periegesis des Pausanias gestellt sehen - eines Textes, bei dessen Lektüre sich aufgrund der Fülle der aneinandergereihten Informationen, der ausführlichen Beschreibungen von Orten oder Kunstwerken und der zahlreichen mit ihnen verbundenen Geschichten, die oftmals nur angerissen werden, schnell ein Gefühl der Überforderung einstellen kann.
Greta Hawes hat sich folglich keine leichte Aufgabe gestellt, wenn sie in ihrer hier zu besprechenden Monographie die Wechselwirkungen zwischen dem griechischen Mythos und dem Werk des Pausanias in den Fokus nimmt und den Fragen nachgeht, wie Text und Kontext sich gegenseitig beeinflussen bzw. wie einerseits Pausanias die Welt des griechischen Mythos in sein Werk integriert und andererseits dieses Werk und sein Autor in eine Welt integriert werden, in der der Mythos in vielfältigen Formen und vor allem Erzählungen allgegenwärtig ist. Dabei betont Hawes in ihrer Einleitung, dass es gerade diese Vielfalt mit all ihren "Nebenwirkungen" und die Gebundenheit an persönliche Sicht- und Erzählweisen sei, die das zentrale Charakteristikum der griechischen Mythologie ausmache: "There is no such thing as 'Greek myth' if we imagine it as a singular, abstract system existing beyond the contingencies of human storytelling. [...] The communal is, after all, an interlocked amalgam of myriad personal fleeting thoughts. This is the world the Periegesis reflects." (2).
In den Mittelpunkt ihrer Ausführungen stellt Hawes die Erfahrung des Reisens und die Begegnungen des Pausanias mit dem Mythos (oder besser: den Mythen) in diesem Rahmen (16-26). Diese Begegnungen lassen sich ihr zufolge in mehrfacher Hinsicht verorten: zum einen in der konkreten Landschaft des kaiserzeitlichen Griechenlands, an den Orten, an denen sie stattfinden; zum anderen im Text des Pausanias, d.h. an den Stellen, an denen er seine Berichte über diese Begegnungen in seinem Narrativ platziert. Diese doppelte Lokalisierbarkeit von Mythen bildet eines der Leitmotive der vier Kapitel des Buches, in denen Hawes ihre Thesen jeweils anhand mehrerer Fallstudien entwickelt.
Das erste Kapitel ("Sightseeing", 28-75) befasst sich anhand der Beschreibung der mythischen Geschichte Thebens und verschiedener Bezugnahmen auf den Herakles-Mythos mit den Prinzipien eines "shared cultural vocabulary" (72), das Pausanias Hawes zufolge bei seinen Leserinnen und Lesern vorausgesetzt habe und das es diesen ermöglicht habe, die Erfahrungen des Autors mit ihren eigenen in Beziehung zu setzen. Im zweiten Kapitel ("Taking Bearings", 76-117) arbeitet Hawes unter anderem anhand einer Analyse intratextueller Verweise mit Bezug zum Mythos und von Pausanias' Beschreibungen von Heroengräbern heraus, wie stark der Umgang mit dem Mythos im kaiserzeitlichen Griechenland von persönlichen Sicht- und Erzählweisen abhing, und postuliert: "[...] there is no 'neutral' way to narrate Greek myth or to present its data; one cannot separate storytelling from interpretation, interpretation from local interests, the locale from its politics [...]." (109). Im nächsten Kapitel ("Encounters", 118-158) entwickelt Hawes diese These weiter, indem sie zunächst verschiedene, das Werk des Pausanias durchziehende Themenkomplexe in den Blick nimmt (Replicas, Relics, Residues, Ruins) und folgert, dass das Griechenland der Periegesis ein Griechenland sei "as it appears to an individual deeply embedded within the prevailing culture of his time. What Pausanias gives us is the experience of coming face-to-face with surprisingly familiar places and conceptual recalculations that this produces as he reconciles what he sees with soundscapes of stories and mental horizons ox expectation." (127).
Orte und die mit ihnen verbundenen Geschichten, so lässt sich eine von Hawes Hauptthesen auf den Punkt bringen, existieren nur, wenn es jemanden gibt, der diese Geschichten erzählt - wobei stets die spezifischen Motive und Interessen, die hinter einer spezifischen Erzählweise stehen, berücksichtigt werden müssen. Diesem Motiv der dezidiert lokalen Dimension griechischer Mythen bzw. des Umgangs der Griechen mit "ihren" Mythen folgt Hawes schließlich im letzten Kapitel ("Localisms", 159-201). Anhand von vier Fallstudien (nochmals Theben, Korinth, Mykene und Messenien) demonstriert sie, wie und warum sich narrative Modi und Strategien trotz des zu Beginn des Buches in den Blick genommenen "shared cultural vocabulary", d.h. trotz eines panhellenischen Reservoirs mythischer Heroen und mit ihnen verbundener Geschichten, das die Referenzgröße jeder Bezugnahme auf die Welt des Mythos im kaiserzeitlichen Griechenland bildete, voneinander unterscheiden oder gar miteinander in Konflikt geraten können.
Dieses (produktive) Spannungsverhältnis zwischen dem Panhellenischen und dem Lokalen durchzieht das Werk des Pausanias. Sein erklärtes Ziel ist es, seinen Leserinnen und Lesern panta ta hellenika nahezubringen. Hawes zeigt in ihrem Buch plausibel und schlüssig auf, dass mit dieser Phrase gerade in Bezug auf den Mythos nicht einfach das "Panhellenische" gemeint ist, sondern eben "alles Hellenische" in seiner Vielfalt und potentiell konfligierenden Verschiedenheit: Panta ta hellenika bezeichnet die Gesamtheit lokaler Traditionen bzw. spezifischer Mythen und der ebenso spezifischen Art und Weise des storytelling, die diese Mythen in der Umwelt des kaiserzeitlichen Griechenlands einerseits und in der individuellen Rezeption und Präsentation dieser Umwelt in der Periegesis andererseits verankern. Hawes hat damit eine Studie vorgelegt, die die Stellung des Werkes im Kontext der Kultur des kaiserzeitlichen Griechenlands näher definiert und die Pausanias-Forschung durchaus bereichert.
Wolfgang Havener