Peter Geimer: Die Farben der Vergangenheit. Wie Geschichte zu Bildern wird, München: C.H.Beck 2022, 304 S., 101 Abb., ISBN 978-3-406-78061-5, EUR 38,00
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2002
Peter Geimer: Die Vergangenheit der Kunst. Strategien der Nachträglichkeit im 18. Jahrhundert, Weimar: VDG 2002
Peter Geimer: Theorien der Fotografie zur Einführung, 2., verbesserte Auflage, Hamburg: Junius Verlag 2010
Peter Geimers 2022 erschienene bildwissenschaftliche Studie folgt der Frage nach der visuellen Rekonstruktion von Geschichte zwischen den Polen von Vergegenwärtigung und Entzug, von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Die im Titel genannten "Farben" sind dabei ein metaphorisch zu lesender Leitbegriff, der durch die Lektüre führt: Sie stehen für die "Wirklichkeitseffekte" der Historienmalerei, den Illusionsraum des Panoramas, die Spur des Gewesenen im Fotografischen oder die (digitale) Reanimation im Film, um damit die vier Kapitel des Buches zu benennen.
Motivation für das Thema zog der Autor nach eigenem Bekunden aus der Skepsis gegenüber Strategien, die ein unmittelbares Erleben von Geschichte suggerieren als Form des Distanzverlustes, wohingegen eigentlich nur Distanznahme ermögliche, überhaupt etwas zu "sehen". Geimer geht es dezidiert nicht um Bilder als historische Quelle, sondern als eigenständige Erscheinungsform von Geschichte. Wird zunächst die durch das Thema geweckte Erwartung etwas gedämpft, wenn er einleitend darauf hinweist, dass das Buch keine lineare Erzählung biete, sondern ein "Tableaux von Fallstudien" (16) sei, erweist sich dieses Prinzip letztlich als schlüssig, führt die Analyse doch zu meist übertragbaren Erkenntnissen.
Das erste Kapitel ist der Historienmalerei Ernest Meissoniers gewidmet, dessen Darstellungen der napoleonischen (Militär-)geschichte sich durch die eigentümliche Dichotomie von absoluter Detailgenauigkeit und gleichzeitiger Ereignislosigkeit auszeichnen. Damals von Kritikern wie Emile Zola als Effekthascherei angeprangert, ist Meissoniers Präzision bei der Wiedergabe von Oberflächen und Stofflichem als "malerische Mimikry fotografischer Detailtreue" (28) eine Strategie der Authentifizierung jenseits des Erzählerischen. Sie wird dadurch gesteigert, dass originale Objekte in Funktion einer säkularen Reliquie als Vorlagen genutzt werden. Wenn Geimer immer wieder von den verschiedenen bildlichen Strategien der Rekonstruktion von Geschichte spricht, geht es hier in erster Linie doch um Konstruktion, denn die historische Rekonstruktion gründet letztlich auf einer Unmöglichkeit. So schreibt er an anderer Stelle selbst: "Was sich beobachten lässt, ist (noch) nicht vergangen, und umgekehrt: das Vergangene ist nicht beobachtbar und kann nur indirekt oder aus zeitlicher Distanz rekonstruiert werden." (43).
Dies gilt auch für das im zweiten Kapitel verhandelte Panorama, das wider diese Prämisse versucht, Geschichte zu vergegenwärtigen: in Form eines "illusionistischen Totaleindrucks" (90/91), der dem Publikum vermittelt, am Ort des Geschehens selbst zu sein. Insbesondere dem "faux terrain", das mit realen Objekten den Übergang in die gemalte Bildzone markiert wie kaschiert, kommt dabei besondere Bedeutung zu. Doch auch diesem nicht mehr nur rein visuellen, sondern durchaus auch die anderen Sinne ansprechenden Spektakel sind Grenzen gesetzt, nämlich in der zeitlichen Struktur. Die maximale räumliche Ausdehnung auf 360° trifft auf die zeitliche Komprimierung des dargestellten Geschehens in nur einem einzigen Moment.
Aus der Retrospektive betrachtet erscheint der von Meissonier angestrebte und im Panorama potenzierte Anspruch der detailgenauen Schilderung als Imitation eines indexikalischen Prinzips, als "leere Evidenz", die nur sich selbst bezeugt, aber keine tiefere Bedeutung besitzt (32). Anders stellt es sich bei dem im dritten und längsten Kapitel des Buches diskutierten Medium der Fotografie als "fixierte Spur des Gewesenen" (98) dar. Zunächst wägt Geimer die Anwendbarkeit von Roland Barthes' berühmtem Axiom der unmittelbaren Einschreibung des Realen im fotografischen Bild auf seine These ab, um ihm dann weitestgehend zu folgen. Denn für Barthes bezeugt sich im historischen Bild vor allem die zeit-räumliche Abgeschiedenheit des Gezeigten, es geht nicht um dessen Verlebendigung. An recht unterschiedlichen Beispielen spielt Geimer diese Annahme gekoppelt mit Siegfried Kracauers Überlegungen zur Fotografie als Fragment und Überrest der Geschichte durch. Historische Aufnahmen aus Palästina zur Vergegenwärtigung biblischer Geschichte, "letzte Bilder" von Menschen kurz vor deren Tod entstanden, künstlerisch von Larry Sultan und Mike Mandel genutzte, entkontextualisierte Archivfotografien oder die Bildstrategie der ersten Version der Ausstellung "Verbrechen der Wehrmacht" sind allerdings recht heterogene Beispiele, die eher schlaglichtartig aufeinanderfolgen, als dass sie in einer stringenten Argumentation zusammengeführt würden. Der aufschlussreichste Teil dieses Kapitels ist jener zur unterschiedlichen Semantik von Schwarzweiß und Farbe und insbesondere der neueren digitalen Praxis der Nachkolorierung. Die hier diskutierten Rezeptionsmodi zwischen Distanzierung und Anverwandlung, Zeugenschaft und Animation, Beglaubigung und Empathie bieten reichlich Anregung zur Reflexion insbesondere zeitgenössischer Bildpraktiken in der Auseinandersetzung mit oder vielmehr Erzeugung von "Geschichte".
Diese Überlegungen leiten über zum letzten Kapitel, in dessen Zentrum der Umgang mit authentischem Bildmaterial als "found footage" im Film steht. Die Grenzen zwischen Dokumentation und Fiktionalisierung lösen sich auf, wenn schwarzweißes und stummes Material digital mit Farbe und Tonspur überschrieben wird, um diesem und damit der Geschichte etwas heute als defizitär Empfundenes "zurückzugeben". Mit Robert Belot spricht Geimer hier von einer "Derealisierung" als gegenteiligem Effekt.
Die Chronologie der untersuchten Filme endet bei "Aufschub", einem Film von Harun Farocki, der auf der Remontage von 1944 im sogenannten Lager Westerbork angefertigtem Filmmaterial basiert. Hier erfüllt sich für Geimer der Anspruch eines gleichermaßen sensiblen wie medienreflexiven Umgangs mit historischen Bildern - eine Forderung aber, die keinesfalls auf all das im Buch ausgebreitete Material übertragen werden kann, zu unterschiedlich sind doch die Genres und die darüber Adressierten zu den verschiedenen Zeiten. Es ist eine der unbedingten Stärken von Geimers erhellender und kurzweilig zu lesender Studie, dass er manch (kleine) argumentative Schwächen selbst erkennt und thematisiert, so wie er, in der Kunstgeschichte noch immer ungewöhnlich, auch seine Sprecherposition im Verweis auf seinen Jahrgang, nämlich 1965, und die damit verbundene Wahrnehmungssozialisation reflektiert.
Die in der Einleitung formulierte Frage danach, was Bilder zwischen Vergegenwärtigung und Entzug zu Spuren oder visuellen Zeugnissen von "Geschichte" macht, lässt sich nach der Lektüre eigentlich nur mit dem Verweis auf die Metaebene der je eigenen Geschichtlichkeit der verschiedenen Bildmedien beantworten. Spannend wäre es, die Frage weiterzudenken für jene digitalen und über die sozialen Medien verbreiteten instantanen Bilderzeugnisse politischer Ereignisse, deren Produzent*innen im Moment der Aufnahme bereits wissen, dass damit ein historisches Zeugnis entsteht.
Agnes Matthias