Brücke-Museum / Stiftung Deutsches Technikmuseum Berlin / Stiftung Stadtmuseum Berlin et al. (Hgg.): Das Museum dekolonisieren? Kolonialität und museale Praxis in Berlin (= Edition Museum; Bd. 66), Bielefeld: transcript 2022, 238 S., ISBN 978-3-8376-6427-0, EUR 39,00
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Museen in Deutschland befinden sich in einem unaufhaltbaren Prozess der Transformation, der seit einigen Jahren von der Forderung nach einer diversitätsorientierten und machtkritischen Ausstellungs- und Vermittlungspraxis begleitet wird. Besonders in Berlin haben die Debatten rund um das Humboldt Forum der von zivilgesellschaftlichen Initiativen geforderten Dekolonisierung musealer Bildungseinrichtungen zu neuem Aufschwung verholfen. Im Jahr 2020 wurden öffentliche Gelder für die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialgeschichte zur Verfügung gestellt, mit denen verschiedene Projekte in der Hauptstadt umgesetzt wurden.
Unter dem Titel "Das Museum Dekolonisieren? Kolonialität und museale Praxis in Berlin" stellen die Herausgeber*innen Brücke-Museum, Stiftung Deutsches Technikmuseum, Stiftung Stadtmuseum Berlin, Daniela Bystron und Anne Fäser drei geförderte Pilotprojekte vor, die in den Jahren 2020 bis 2022 in Berlin stattfanden. Sie waren durch die gemeinsame Arbeit und den Austausch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und Aktivist*innen geprägt, die sich seit langem der dekolonialen Praxis widmen. Gemeinsam mit externen Expert*innen sichtete das Stadtmuseum Berlin erstmalig gezielt seine Sammlung mit Hinblick auf kolonialen Spuren (189-196). Das Brücke Museum beschäftigte sich mit dem kolonialen Erbe der eigenen Institution und veranstaltete eine Reihe interner Reflexionswerkstätten, die neue Perspektiven auf Diskriminierung und Diversität ermöglichten (199-211). Das Deutsche Technikmuseum setzte mit dem Abbau der vielfach kritisierten Inszenierung des brandenburgisch-preußischen Versklavungshandels im Bereich Schifffahrt der Dauerausstellung den Startpunkt für eine inklusive und diversitätsorientierte Museumspraxis (173-187).
Die vorliegende Publikation bietet einen übergreifenden Einblick in die vielfältige Auseinandersetzung mit der Rolle des Museums und macht zugleich die vielschichtigen Prozesse und Herausforderungen transparent, die die konkrete Umsetzung und Durchführung der Projekte begleiteten. Eine maßgebliche Hürde für eine macht- und kolonialismuskritische Museumsarbeit sei die personelle Besetzung der Kulturinstitutionen, die mehrheitlich von weißen Personen geführt würden. Gerade dadurch fehlten, so der gemeinsame Befund, "Erfahrungen und Wissen zu dekolonialen Ansätzen, Diversitätsorientierung, Diskriminierungssensibilität und Rassismuskritik." (9).
Vor diesem Hintergrund vereint der Sammelband Autor*innen, deren "Wissen, Sichtweisen, Expertisen und Erfahrungen" (14) für eine diversitätsorientierte Museumspraxis grundlegend sind. Er entstand in Kooperation mit dem Berliner Verbundprojekt Dekoloniale Erinnerungskultur in der Stadt, das die kolonialen Kontinuitäten des "ehemaligen Zentrums wilhelminischer Imperialpolitik" (Dekoloniale 2023) erforscht und sichtbar macht. Insgesamt äußern sich 30 Autor*innen in 17 Beiträgen. Sie sind jeweils einer der folgenden Betrachtungsperspektiven zugeordnet: Haltung und Verantwortung (19-28), Kolonialismus und koloniale Kontinuitäten (29-62), Inreach (63-82), Wissen/Kanon/Sprache (83-118), Sammlung (119-134), Städtische Erinnerungskultur (135-146), Perspektivwechsel (147-170), Vorstellung der drei Projekte (171-212), Wie geht es weiter? (213-230). Diese Perspektiven waren für die beteiligten Museen richtungsweisend und bilden hier ein Ordnungsprinzip, das die unterschiedlichen Textsorten Erfahrungsbericht, Dokumentation, Interview und Quellenanalyse zu organisieren versucht. Das Buch bündelt damit vielfältige Ansätze und Strategien im Umgang mit Kolonialität. Gleichzeitig liefert es wichtige Erkenntnisse in Bezug auf notwendige Voraussetzungen einer nachhaltigen Dekolonisierung.
Die beiden Historiker*innen Paulette Reed-Anderson und Christian Kopp beginnen die historische Darstellung des Deutschen Kolonialismus im 17. Jahrhundert. In ihrem Beitrag "Berlins versklavte Afrikaner. 'Eigentum' von Fremden in einem fremden Land" arbeiten sie entlang geschichtlicher Quellen die Verwicklungen der brandenburgischen Könige in den transatlantischen Sklavenhandel heraus, der die Ausbeutung, Unterdrückung und Vernichtung von nicht-weißen Menschen zu einem rentablen Modell ausweitete und dessen Erbe unsere Gesellschaften bis in die Gegenwart hinein prägen (43-61). Damit verschieben die Autor*innen den Ausgangspunkt für die gegenwärtige Aufarbeitung des kolonialen Erbes von Museen und ihrer kolonialen Kontinuität, die sich häufig an der Berliner Konferenz von 1884/85 orientiert und rücken das Deutsche Reich als machtvollen und einflussreichen Kolonialakteur in den Fokus. Sie schaffen hier ein Fundament, das neue Geschichtserzählungen ermöglicht und der lückenhaften und verharmlosenden Vermittlung deutscher Kolonialpolitik entgegenwirkt, die lange Zeit als Eroberungsgeschichte inszeniert wurde.
Die zentrale Rolle von Sprache im Museum greift unter anderem der Journalist Julian Dörr auf. In seinem Text "Räume, in denen sich freie Menschen begegnen. Diversitätssensible Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit im Museum" plädiert er für einen diversitätsorientierten und kritischen Umgang mit Sprache. Ihm zufolge beeinflussen (bild)sprachliche Darstellungen unsere Wahrnehmung von Welt und schaffen Kontexte, die vorgeben, welche Aspekte sichtbar werden und welche im Verborgenen bleiben (88). Am Beispiel der Programmtexte im Deutschen Technikmuseum verweist der Autor auf Leerstellen in der kritischen Darstellung von Technologie und ihren Auswirkungen auf Mensch und Natur. Während der Fortschrittsgedanke technischer Errungenschaften vor allem im Kontext des ersten und zweiten Weltkriegs durch eine "deutliche, kritische und Narrative hinterfragende Sprache" (89) bereits problematisiert werde, stehe eine kritische Betrachtung und Darstellung der Zusammenhänge von Technologie und Kolonialismus noch aus. In ihrem Text "Textproduktion im postkolonialen Museum" reflektiert die Autorin Ania Faas den radikalen Umgang mit rassistischen Sprachmustern, den das Brücke-Museum in der kontrovers diskutierten Ausstellung "Whose Expression?" verfolgte. Sie zeigt, inwieweit sich typografische Setzungen und Markierungen in Ausstellungstexten dazu eignen, exotisierende Darstellungen und diskriminierende Begriffe zu hinterfragen und neue Perspektiven zu eröffnen. Nennenswert sind auch die Ausstellungsbeispiele aus dem Museum für Angewandte Kunst in Frankfurt, die den lokalen Fokus der Publikation erweitern (31-41).
Eine Stärke der Publikation ist es, dass sie vielfältige Expertisen und Erfahrungen im Umgang mit musealer Repräsentation, Erinnerungskultur und Wissensproduktion bündelt. Dies spiegelt sich sowohl in der Auswahl der Beitragenden als auch in der Vielfalt der Textsorten wider. Die Herausgeber*innen stellen zahlreiche Ansätze und Methoden zu diversitätsorientierter, diskriminierungssensibler und inklusiver Kulturarbeit vor. Sie äußern Kritik an den strukturellen Bedingungen der beteiligten Museen und gewähren den Lesenden einen ehrlichen Einblick in die Herausforderungen, Unsicherheiten und Fragen, die ihnen während der Durchführung der Pilotprojekte begegneten. Die umfassende Rückschau bringt gemeinsame Defizite und Leerstellen der gegenwärtigen Museumspraxis ans Licht. Wünschenswert wäre eine stärkere Reflexion der in den Projekten erprobten Praxis in Bezug auf beispielgebende Vorstöße der diversitätsorientierten und inklusiven Museumsarbeit seit den 1990er Jahren gewesen. Eine deutschlandweite Vorreiterrolle hatte das Bremer Übersee-Museum bereits 1988 unter der Direktion von Herbert Ganslmayr mit der Ausstellung "Kurden - Alltag und Widerstand" eingenommen, die in Zusammenarbeit mit der kurdischen Wissenschaftlerin Yayla Mönch-Bucak entstand.
Tanja-Bianca Schmidt