Berthold Friemel / Vinzenz Hoppe / Philip Kraut u.a. (Hgg.): Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm mit Johann Martin Lappenberg, Friedrich Lisch und Georg Waitz. Im Anschluss an Wilhelm Braun und Ludwig Denecke (= Briefwechsel der Brüder Jacob und Wilhelm Grimm kritische Ausgabe in Einzelbänden; Bd. 8), Stuttgart: S. Hirzel 2022, 835 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-7776-2625-3, EUR 86,00
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Die Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel an der Humboldt-Universität zu Berlin hat seit 2001 sieben stattliche Bände des "Briefwechsels der Gebrüder Jacob und Wilhelm Grimm" herausgegeben: neben dem Briefwechsel zwischen den Brüdern Korrespondenzen (natürlich) vorrangig mit Sprachwissenschaftlern, aber z.B. auch mit Verlegern. Damit ist der Grimm-Briefwechsel eins der wichtigen und vergleichsweise zügig produzierenden Editionsunternehmen zur Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts geworden. Der hier anzuzeigende achte Band ist einer anderen Gruppe von Korrespondenzpartnern der beiden Sprachwissenschaftler und Sammler gewidmet: den Historikern, konkret zwei Mediävisten (Johann Martin Lappenberg und Georg Waitz) und einem Prähistoriker (Friedrich Lisch). Weitere Bände zu diesem Personenkreis befinden sich offensichtlich in Vorbereitung, so zu Georg Heinrich Pertz.
Dass Sprachwissenschaftler und Historiker einander manches zu sagen hatten, erstaunt angesichts der Tatsache, dass renommierte Historiker von den Klassischen Philologien her kamen und dort methodisch geschult worden waren, nicht - das herausragendste Beispiel ist Leopold von Ranke, der in Leipzig Philologie und Theologie studiert hatte, überhaupt nicht Geschichte. Es dürfte unter den Historikern des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts kaum einen gegeben haben, der nicht sprachwissenschaftlich ausgebildet und sozialisiert gewesen wäre. Das gilt auch für alle hier vertretenen Wissenschaftler.
Dieser Band - wohl noch ohne den Lisch-Teil, der von Seiten der Kasseler Grimm-Bibliothek beigesteuert wurde - beschäftigte das Berliner Team wenigstens seit 1989 und diente in Teilen in den frühen 1990er Jahren sogar als Grundlage für die Fixierung der Editionsmethode. Dass sich sein Abschluss dann doch bis 2022 hinzog, gründet unter anderem im Ableben wichtiger Mitarbeiter, deren Namen fairerweise auf dem Titelblatt Erwähnung fanden.
Den Briefen an und von einem der Grimms an die drei Korrespondenzpartner ist jeweils ein biographischer Einstieg vorgeschaltet, der im Fall Lappenberg mit rund 60 Seiten eine geradezu epische Breite aufweist (und im Fall Waitz sogar noch etwas umfangreicher ist). Die 100 Briefe aus dem Zeitraum 1823 bis 1863 an und von Lappenberg, meist aus Krakauer und Berliner Beständen und "weitgehend" unveröffentlicht, nahmen ihren Ausgang von den gemeinsamen Interessen des der Hamburger Honoratiorenschicht entstammenden Juristen und angehenden Historikers und Jacob Grimms an englischen Quellen. Der Tenor - geteilte Arbeitsgebiete und der Diskurs über damit verbundene Institutionen (britische Record Commission) und beteiligte Personen und Lesarten - blieb sich über die gesamten vierzig Jahre im Wesentlichen gleich, anders gewendet: Familienangelegenheiten und Karriereschritte spielen eine untergeordnete Rolle; selbst die Entlassung der Grimm-Brüder im Zuge der "Göttinger Sieben" wird kaum angesprochen, wiewohl angenommen werden muss, dass Lappenberg sich unter der Hand bemühte, die Grimms in feste Besoldungsverhältnisse in Hamburg unterzubringen. Immerhin wurde die Beziehung zwischen Lappenberg, der sich als Archivar und als Historiker in die vorderste Linie seiner Fachgenossen spielte, und den beiden Grimms, denen er vor allem zu norddeutschen Quellen wie etwa einer Sammlung hamburgischer Hochzeitsgedichte Auskunft gab, als so freundschaftlich eingestuft, dass Jacob Grimm 1839 die Patenschaft über Lappenbergs zweiten Sohn übernahm und dass der Austausch von neuen Büchern und Sonderdrucken zur Regel wurde.
Der zweite Teil der Edition, der Briefwechsel der Grimms mit dem mecklenburgischen Altertumsforscher Friedrich Lisch, vermittelt ein ähnliches Bild: die Grimms und der Korrespondenzpartner sind Gebende und Nehmende zugleich. Die Edition der 60, zwischen 1826 und 1859 gewechselten Briefe umfasst das gesamte breite Arbeitsfeld von Lisch, der, 1801 geboren, in Mecklenburg eine rasche, zu Spekulationen über eine adlige Abkunft Anlass gebende Karriere durchlief und als eine prägende Persönlichkeit jener Region sogar in der Belletristik Spuren hinterlassen hat. Er hatte in Berlin bei den großen Koryphäen der damaligen Sprachwissenschaft, bei den Boeckh, Ideler, Bopp und dann vor allem Karl Lachmann studiert und nahm über eine entsprechende kleine Publikation erstmals mit Jacob Grimm Kontakt auf, wobei freilich in der Folgezeit die Korrespondenz mit Wilhelm Grimm überwiegen sollte. Die Briefwechsel betreffen Funde mittelalterlicher Handschriften bzw. Fragmente im Schweriner Archiv, kreisen um die Sammlung von regionalen Märchen, die Lisch in seinem mecklenburgischen Periodikum veröffentlicht hatte, sowie um die Mitarbeit am "Deutschen Wörterbuch" der Grimms. Auf der anderen Seite diskutierten die Briefpartner archäologische Funde wie Runensteine und einen bronzezeitlichen Kultwagen und frühgeschichtliche Begräbnisriten, die zu ersten Typisierungen führten, aber insgesamt Jacob Grimm eher skeptisch bleiben ließen. Die Kommentierung ist hier besonders akribisch, weil sie auch die Verweise in den Grimm-Publikationen auf Lisch-Referenzen anführt und vice versa.
Der renommierteste unter den hier vertretenen Historikern ist sicher Georg Waitz gewesen, dessen enge Verbindung zu den Grimms eindrücklich bestätigt, dass die Gebrüder "wesentlicher Teil einer Historikergemeinschaft" waren und dass die frühe deutsche Philologie "kontinuierlich eng mit der Geschichtswissenschaft verbunden blieb, die sich ihrerseits in einer überdurchschnittlich stark von philologischen Methoden mitgeprägten Phase befand" (559). Waitz hielt die Grimms über seine MGH-Forschungen und -Publikationen auf dem Laufenden, entdeckte auf seinen Archiv- und Bibliotheksreisen Handschriften, darunter die berühmten Merseburger Zaubersprüche, für die Grimms, und suchte, auch nachdem sie nach Berlin umgezogen waren, bei jeder Gelegenheit ihre persönliche Nähe. Jacob Grimm schlug seinerseits Waitz für die Zuwahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften vor (1842) und kooperierte in mancher Hinsicht mit ihm in der Frankfurter Nationalversammlung. Waitz ließ auch in den 1850er Jahren kaum eine Gelegenheit aus, um die Grimms - in Berlin oder an Urlaubsorten - zu besuchen; zum letzten Mal trafen sie sich auf der Jahrestagung der Münchener Historischen Kommission 1862. Zufall oder mehr: Waitz fand sein Grab in Berlin wenige Meter von dem der Grimms entfernt.
Dass es über wissenschaftliche Fragen auch zu Meinungsverschiedenheiten kam, kann kaum erstaunen; über die frühe germanische Stammesgeschichte liefen die Ansichten auseinander, gegenüber Jacob Grimms Tendenz, die deutsche Sprache mit anderen Sprachen, etwa dem Gotischen, zu "vermengen", also eine Art Vorstufe des Germanischen anzunehmen, hatte Waitz aus nationalpolitischen Gründen Bedenken, und auch auf politischem Gebiet stimmte Waitz mit Grimms Tendenz, Gewalt gegen die Throne bedingt als zulässig zu erklären, keineswegs überein. Dass die Beziehung freundschaftlichen Charakter hatte, darf bei alledem allerdings nicht in Zweifel gezogen werden; schon die Anreden in den 1850er Jahren - von "verehrtester" bis zu "lieber" und "liebster Freund" - dokumentieren das nachdrücklich.
Die Arbeit an den annähernd 50 mitgeteilten Briefen - ausnahmslos Briefe an und von Jacob Grimm und zwei an Wilhelms Frau Dorothea - reicht bis in die frühen 1990er Jahre zurück. Hier wird möglicherweise immer wieder einmal ein Brief neu auftauchen, aber am Charakter dieser Beziehungsgeschichte wird sich nichts mehr ändern.
Der Band spiegelt die Entwicklungs- und Beziehungsgeschichte einer Reihe renommierter "Geisteswissenschaftler" des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts und ihres interdisziplinären Austauschs. Niemals später sind die Beziehungen zwischen der Sprachgeschichte und der Historie so eng gewesen wie im hier in Rede stehenden Zeitraum. Außerordentlich zu begrüßen ist es, dass auch den Akademiemitgliedschaften der Protagonisten jene Aufmerksamkeit geschenkt wird, die sonst oft unter den Tisch fällt. Die Editionstechnik ist in hohem Maß elaboriert. Dem jeweiligen Text eines Briefs schließt sich - neben dem Hinweis auf die Überlieferung (Fundort) und unsichere Lesarten - ein üppiger kritischer Apparat an, in dem Zusammenhänge und Fachbegriffe, z.B. aus dem Bereich des Rechtswesens oder der Archäologie, erläutert und weiterführende Literatur angeführt werden. Der Apparat ist wahrlich erschöpfend und macht meist vom Umfang her ein Mehrfaches des Brieftextes aus. Es lässt sich wohl kaum vermeiden, dass sich (biographische und sonstige) Angaben im Text duplizierend auch in den kritischen Apparaten wiederfinden. Gelegentlich neigen die Bearbeiter in den Einleitungen zu wahren Satzungetümen. (z.B. 19 oben, 21) Reinhold Pauli kann man wohl kaum als "Lappenbergs Schüler" (21, Anm. 8) bezeichnen. Die Schriftgröße vor allem in den Apparaten setzt sehr gute Augen oder extrem gute Lichtverhältnisse voraus; Lappenberg, der gegen Ende seines Lebens ja mit gravierenden, sich dem Zustand der Blindheit nähernden Augenproblemen kämpfen musste, hätte sie mit Gewissheit nicht lesen können.
Heinz Duchhardt