Dunja Krempin: Die sibirische Wucht. Der Aufstieg der Sowjetunion zur globalen Gasmacht 1964-1982 (= Osteuropa in Geschichte und Gegenwart; Bd. 7), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 447 S., (open access pdf verfügbar) , ISBN 978-3-412-51931-5, EUR 75,00
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Spätestens seit dem hochumstrittenen Bau der Gaspipelines Nordstream 1 und 2 von Russland durch die Ostsee nach Mukran auf Rügen wurde die Frage nach der Abhängigkeit Europas, speziell Deutschlands, von russischen Gaslieferungen heiß diskutiert. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 überschlugen sich die Kommentare, die der deutschen Politik zumindest Blauäugigkeit vorwarfen und teilweise die gesamte, seit Ende der 1960er Jahre begonnene Entspannungspolitik grundsätzlich in Frage stellten. Von ausreichenden historischen Kenntnissen waren die oft hochemotionalen Debatten nur selten geprägt. Umso mehr lohnt es sich, die Ergebnisse eines mehrjährigen Forschungsprojektes zur Geschichte der sowjetischen Öl- und Gaswirtschaft zur Kenntnis zu nehmen, das unter der Leitung von Jeromin Perovic an der Universität Zürich lief. In diesem Rahmen entstand auch die nunmehr als Buch vorliegende Dissertation von Dunja Krempin. Die Autorin verfolgt in zwölf Kapiteln einen organisationsgeschichtlichen und auf die Hauptakteure aus Politik und Gaswirtschaft bezogenen Ansatz. Ihre Arbeit basiert auf der Auswertung einer Vielzahl russischer Archivquellen und Publikationen sowie der einschlägigen internationalen Literatur.
Krempin blickt einleitend auf Chruščevs Versuch zurück, mit einem groß angelegten Chemieprogramm, basierend auf der Steigerung der Öl- und Gasförderung, die sowjetische Wirtschaft zu modernisieren. Das mit überbordenden Erwartungen gestartete Projekt scheiterte an der Innovationsschwäche des planwirtschaftlichen Systems. Ein positiver Nebeneffekt wirkte jedoch fort: Erstmals formierte sich eine regionale Erdöl- und Erdgaslobby in Tjumen. Die Autorin benennt nicht nur deren wichtigste Akteure, sondern schildert ihre Kämpfe mit konkurrierenden Ministerien und ihre Verdienste beim Ausbau des Industriezweigs. So sah Aleksej Kortunov, Minister für Gasindustrie, seit Mitte der 1960er Jahre die Chance, die sowjetische Gasindustrie so weit zu entwickeln, dass sie die amerikanische vom ersten Platz in der Welt verdrängen könnte. Er gewann die politische Führung in Moskau sowie sibirische Lokalfunktionäre für seine Pläne. Entscheidend war, dass Leonid Brežnev die Chancen des Ausbaus der westsibirischen Gasindustrie erkannte und sich in den 1970er Jahren zu ihrem wichtigsten Befürworter aufschwang. Innenpolitische und außenwirtschaftliche Motive waren bei ihm dabei eng verknüpft. In der Außenpolitik ging es Brežnev um die Bewahrung des Status quo und einen Ausgleich mit dem Westen. Die Entspannung zwischen der Sowjetunion und den USA sollte das "North-Star"-Projekt befördern. Dabei ging es um die Lieferung großer Mengen von Flüssigerdgas aus westsibirischen Feldern über die Arktis in die USA. Auch mit Japan wurden Mitte der 1970er Jahre höchst ambitionierte Projekte angebahnt. Doch die Verhandlungen scheiterten sowohl aus wirtschaftlichen als auch politischen Gründen.
Spannend ist auch der Blick der Autorin auf die sibirischen Industrieutopien. So bot die Sowjetunion westlichen Ländern an, sich mit Milliardensummen am Aufbau des größten petrochemischen Komplexes der Welt in Tomsk zu beteiligen. Der Plan für ein solch gigantisches Kompensationsprojekt ging nicht auf, da der Aufbau großer petrochemischer Kapazitäten in Tomsk nachhaltig negative Auswirkungen, vor allem auf die großen Chemiestandorte in der Bundesrepublik Deutschland gehabt hätte. Als Rohstofflieferant war die Sowjetunion ein gern gesehener Geschäftspartner, aber nicht als Anbieter von hochwertigen Fertigprodukten.
Trotz massivster Widerstände der USA gelang es der Sowjetunion Anfang der 1980er Jahre, große Gaslieferverträge mit einer ganzen Reihe westeuropäischer Länder zu schließen. Diese basierten auf einer wechselseitigen Interdependenz. Die Sowjetunion war von den Einnahmen mindestens ebenso abhängig wie ihre westeuropäischen Partner von Erdgas. Leider fehlt in diesem Kapitel eine Bezugnahme auf die von Dietmar Bleidick verfasste Unternehmensgeschichte der Ruhrgas AG. [1] Dabei hat dieses größte europäische Gashandelsunternehmen in den 1970/80er Jahren eine zentrale Rolle bei der Ausweitung der Geschäfte mit der Sowjetunion gespielt. Etwas zu knapp werden die sowjetischen Gaslieferverträge mit den Ländern des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) behandelt. Die Sowjetunion forcierte den subventionierten Export von Öl und Gas in diese Länder, um sie im Bündnis zu halten. Unerwähnt lässt die Autorin erste Risse im sogenannten Bruderbund, die sich bereits 1970 beim Bau der Erdgaspipeline Bratstvo abzeichneten. Ein Zweig dieser Leitung sollte ursprünglich über polnisches Gebiet bis in die DDR führen. Entsprechende Abkommen waren bereits geschlossen und der Bau begonnen worden, doch angesichts der innenpolitischen Krise in Polen 1970 drängte die Sowjetunion auf eine veränderte Trassenführung durch die ČSSR. Im Sommer 1970 wurde daraufhin das deutsch-polnische Bauprojekt beendet.
Trotz der von der Autorin ausführlich analysierten Probleme bei der Erschließung der westsibirischen Gasvorkommen - den Schwierigkeiten bei der Gewinnung von Arbeitskräften und des Aufbaus sozialer Infrastrukturen, fehlenden technische Innovationen sowie einem schlechten Umweltschutz - bleibt dies eine der wenigen Erfolgsgeschichten der sowjetischen Wirtschaft. Das kommt auch im Buchtitel "Die sibirische Wucht" zum Ausdruck. Krempin entschlüsselt den Titel am Ende ihrer Darstellung, indem sie sowjetische Presseartikel vom Mai 1978 zitiert, in denen das Entwicklungsprogramm für die Erschließung der riesigen westsibirischen Gasvorkommen unter dieser Überschrift angekündigt wurde.
Ihr Buch ist nicht nur Spezialisten ausdrücklich zu empfehlen. Es trägt zu einem besseren Verständnis der Brežnev-Ära bei, die nicht länger plakativ als eine Zeit der Stagnation gesehen werden sollte.
Anmerkung:
[1] Bleidick, Dietmar: Die Ruhrgas 1926 bis 2013. Aufstieg und Ende eines Marktführers, Berlin/Boston 2018.
Rainer Karlsch