Viola B. Georgi / Martin Lücke / Johannes Meyer-Hamme und Riem Spielhaus (Hgg.): Geschichten im Wandel. Neue Perspektiven für die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft (= Public History - Angewandte Geschichte; Bd. 10), Bielefeld: transcript 2022, 399 S., ISBN 978-3-8376-5792-0, EUR 39,00
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Martin Lücke / Irmgard Zündorf (Hgg.): Einführung in die Public History, Stuttgart: UTB 2018
Juliane Brauer / Martin Lücke (Hgg.): Emotionen, Geschichte und historisches Lernen. Geschichtsdidaktische und geschichtskulturelle Perspektiven, Göttingen: V&R unipress 2013
Christina Brüning / Lars Deile / Martin Lücke (Hgg.): Historisches Lernen als Rassismuskritik, Schwalbach: Wochenschau-Verlag 2016
Mit dem Sammelband Geschichten im Wandel. Neue Perspektiven für die Erinnerungskultur in der Migrationsgesellschaft stellt eine interdisziplinäre Forscher*innengruppe vielschichtige Projektergebnisse den Umgang von Akteur*innen mit Geschichts- und Erinnerungskultur in Handlungsfeldern historischen Lernens (Schule, Gedenkstätten/Museen, non-formale Bildung, Bildungsmedienproduktion) vor. Über die Verschränkung "geschichtswissenschaftlicher und -didaktischer, erziehungs- und sozialwissenschaftlicher, migrationspädagogischer, rassismuskritischer und kulturwissenschaftlicher Ansätze und Zugänge" (16) wird ein gesellschaftlich hochrelevantes Thema in vier Teilprojekte übersetzt und kann für den geschichtsdidaktischen Diskurs quasi als Novum betrachtet werden.
In der Einführung werden Forschungsfragen, die theoretische Verortung besprochen und zentrale Termini (wie Geschichts-/Erinnerungskultur, Migrationsgesellschaft, Agency, Historisches Lernen) kritisch hinterfragt, wodurch eine über alle Teilprojekte hinweg nutzbare Analysefolie entsteht. Anschließend wird das teilprojektübergreifende, qualitativ angelegte methodische Vorgehen skizziert. Mittels offener Leitfadeninterviews werden durch Expert*inneninterviews (n) "[...] Relevanzstrukturen" (48) rekonstruiert und handlungsfeldspezifische sowie -übergreifende Akteur*innen-Perspektiven verglichen. In Kapitel 3 werden die Ergebnisse aller vier Teilprojekte nach gleicher Struktur vorgestellt: Für jedes Handlungsfeld werden erst zentrale Ergebnisse dargestellt, anschließend anhand "maximal kontrastiver Fälle" (212) drei Panoramen (geschichtskultureller Wandel, Migrationsgesellschaft, historisches Lernen) exemplifiziert.
Handlungsfeldspezifisch lassen sich folgende Ergebnisse festmachen: Im Handlungsfeld Schule fällt auf, dass Lehrkräfte hinsichtlich der Lerner*innengruppen auf religiöse Differenzmarkierungen (besonders Islam-Muslim*innen) [1] zurückgreifen und von der geschichtlichen Omnipräsenz im öffentlichen Raum als Herausforderung sowie von Doing Memory als Strategie für ein aktives historisches Lernen für den Geschichtsunterricht sprechen. Akteur*innen aus Museen/Gedenkstätten sehen ihr Handlungsfeld als Austragungsort von Conflicting Memories, um geschichtskulturellen Wandel in Form von Shared Memories zu thematisieren. Die Ergebnisse zeigen zum einen, dass Migration immer als Veränderung - und Veränderungen immer zugleich als potentielle Konflikte - betrachtet wird. Zum anderen erkenne man immer wieder ein homogenes Verständnis von Gesellschaft. Die sprachlichen Handlungen der Akteur*innen können als sich oft zwischen 'Kritik an gesellschaftlich produzierten Differenzordnungen' und 'Reproduktion dieser' beschrieben werden, weshalb ein sprachanalytischer Zugang [2] das Projekt gewinnbringend erweitert hätte. Akteur*innen non-formaler Bildung positionieren sich zu Zielen historischen Lernens sowie im Umgang mit Erinnerungskultur und Migrationsgesellschaft besonders divers. Auch bringen sie Themen zu geschichtskulturellem Wandel in der Migrationsgesellschaft am stärksten in Verbindung mit politischem Wandel. Diese spannenden Ergebnisse sollten für anschließende Theorie-Praxis-Projekte nutzbar gemacht werden. Akteur*innen des Handlungsfelds Bildungsmedien beschäftigen insbesondere die Themen 'digitaler Wandel', 'heterogene Lerner*innengruppen und fachsprachliche Diskrepanzen' sowie 'betriebswirtschaftliche Vorgaben'. Die Autor*innen konstatieren, dass Sprache bei der Erschließung von historischen Inhalten immer wieder als Differenzmerkmal genutzt wird. Dieses Ergebnis ist für den geschichtsdidaktischen Diskurs von tragender Bedeutung. Auch wenn die Analyse von sprachlichen Besonderheiten (Fach- und Bildungssprache) weitestgehend Konsens ist [3], kann eine sprachlich-differenzkritische Analyse diese Ergebnisse erweitern, indem eine mögliche Instrumentalisierung von Sprache bei der "Machtausübung zur Wahrnehmung und Herstellung einer sozialen Rangordnung" [4] untersucht wird.
Die einzelnen Handlungsfelder werden in Kapitel 4 verglichen. Allerdings finden sich bereits in Kapitel 3 interessante handlungsfeldübergreifende Befunde, die hätten kontrastiert werden können. Als ein übergreifendes Ergebnis fallen die unterschiedlich ausgeprägten Diskrepanzen zwischen der eigenen Agency im Handlungsfeld und den institutionellen Rahmenbedingungen auf. Zudem zeigt sich, dass die meisten Akteur*innen Migration als gesellschaftliches Phänomen widersprüchlich und ambivalent rekonstruieren: Sie wird gleichzeitig als gegebenes wie auch als neues gesellschaftliches Phänomen verortet. Mit dieser divergenten Position geht ein weiteres zentrales handlungsfeldübergreifende Ergebnis einher, das sich auf die Sprache der Akteur*innen bezieht: die Bezeichnungspraxen, die eine Differenzsetzung zwischen 'Wir' und 'Nicht-Wir' aufzeigen und in Anlehnung an Paul Mecheril als "natio-ethno-kulturell" (103) kodierte Zuschreibungen bestimmt werden. Über alle Handlungsfelder hinweg finden sich in den Akteur*innenaussagen "sprachliche[...] Suchbewegungen" (71), die dichotome Differenzen enthalten. Die kontrastive Zusammenführung der Ergebnisse in Kapitel 4 bezieht sich dann auf die (Mit-)Gestaltung von geschichtskulturellem Wandel und historischem Lernen in der Migrationsgesellschaft. Demnach wird gesellschaftlicher Wandel und Migration zusammengedacht, als geschichtskultureller, subjektiver und kompetenz- oder fähigkeitsorientierter Wandel operationalisiert und oft als Herausforderung kategorisiert. Dieses Kapitel verdeutlicht auch sehr gut die dichotome Differenz der Aussagen über alle Handlungsfelder hinweg, indem die Sprache als sich "zwischen rassifizierendem und reflektierendem Sprachgebrauch" (308) bewegend beschrieben wird. Dieses Ergebnis verdeutlicht einmal mehr die Relevanz von Untersuchungen, die die Eruierung von "Wandlungsprozesse[n] in Echtzeit greifbar" (308) machen.
Der Sammelband schließt mit der Vertiefung zuvor behandelter Themen, die als Schlaglichter auf den Umgang von Lehrkräften mit Themen zu Kolonialismus/Rassismus, auf Impulse für Materialien für einen migrationssensiblen Geschichtsunterricht, auf multidirektionales Erinnern in der Migrationsgesellschaft, auf die Rolle von NS-Gedenkstätten als Reflexionsräume für historisches Lernen und auf die Agency im geschichtskulturellen Wandel eingehen. Es werden zwei für den Diskurs relevante Konzepte betrachtet: (1.) Das Konzept multidirektionales Erinnern kann beispielsweise den geschichts- und erinnerungskulturellen Diskurs um multiperspektivisches historisches Lernen in der Migrationsgesellschaft erweitern, muss jedoch "Kriterien der Triftigkeit historischer Narrative ausbilden" (368) sowie (2.) das Agency-Konzept, das bei der "Analyse [...] eine[r] machtkritische[n] und diskursanalytische[n] Untersuchung von tatsächlicher historischer Diskursfähigkeit" (397) und der Aufdeckung von Macht- und Zuschreibungsordnungen dienen kann. Das soziolinguistische Voice-Konzept könnte für Untersuchungen zur Agency mit Blick auf den "[...] Prozess historischen Denkens in seinen Verflechtungen entsprechend der realen gesellschaftlichen Bedingungen [...]" (397) eine spannende Perspektive bieten. Denn "gerade hinsichtlich Migration, Schule und Ungleichheit ist die Voice ein ohnmächtiges oder machtvolles, sich durchaus auch widersetzendes Instrument." [5]
Der Sammelband bietet neue geschichtskulturelle Perspektiven auf gesellschaftliche und institutionelle Prozesse und Diskurse in der Migrationsgesellschaft. Besonders das sich durch das gesamte Projekt durchziehende Verständnis von Migration als gegebenes gesellschaftliches Phänomen erweitert den Diskurs um Geschichten im Wandel der Migrationsgesellschaft. Denn immer noch wird insbesondere in Bildungsdiskursen Migration nicht im Sinne eines gesellschaftlichen Wandlungsprozesses mitgedacht, der Einfluss auf Institutionen und Individuen hat. Gerade aus diesem Verständnis heraus wäre die Erhebung von "Deutungs-, Denk- und Handlungsmustern von Individuen in sozialen Räumen" [6] beispielsweise mittels Gruppendiskussionen spannend gewesen. Solche gesellschaftlich-historisch verorteten und akzeptierten Muster können den Blick in handlungsfeldgebundene kollektiv gestaltete Räume bieten und individuelle Expert*innenaussagen bedeutend erweitern. Denn die Denk- und Handlungsmuster dieser Räume (beispielsweise Schule) strukturieren das Orientierungswissen aller Beteiligten, sodass die Eruierung dieses Wissens zu geschichtskulturellem Wandel in der Migrationsgesellschaft anregende Befunde für Anschlussforschungen zum historischen Lernen in der Migrationsgesellschaft bieten kann.
Anmerkungen:
[1] Mecheril / Thomas-Olalde (2018) sprechen vom religiösen Othering, das seit dem '9/11-Ereignis' den öffentlichen und schulischen Diskurs stark prägt.
[2] Funktionale Pragmatik als sprachanalytischer Zugang nach Ehlich / Rehbein (1979).
[3] S. Handro / B. Schönemann: Sprachsensibler Geschichtsunterricht. Geschichtsdidaktische Forschungsperspektiven und -befunde, Münster 2022.
[4] İ. Dirim: Wenn man mit Akzent spricht, denken die Leute, dass man auch mit Akzent denkt oder so. Zur Frage des (Neo-)Linguizismus in den Diskursen über Sprache(n) der Migrationsgesellschaft, in: Spannungsverhältnisse. Assimilationsdiskurse und interkulturell-pädagogische Forschung, hgg. von Mecheril / Dirim / Gomolla / Hornberg / Krassimir, Münster / New York 2010, 91-112.
[5] K. Brizić: Der Klang der Ungleichheit. Biografie, Bildung und Zusammenhalt in der vielsprachigen Gesellschaft, Münster / New York 2022, 19.
[6] T. Altun: Das Osmanische Reich in Schülervorstellungen und im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I und II. Eine rekonstruktiv-hermeneutische Analyse von Passungen und Divergenzen unter Berücksichtigung der Bedingungen der Migrationsgesellschaft, Münster / New York 2021, 290.
Tülay Altun